Hunderte Mails an »Bruder Oliver«
Nach dem Willkommenssignal von Goslars Oberbürgermeister wollen Menschen aus aller Welt nach Niedersachsen ziehen - noch scheitern sie an der deutschen Einwanderungspolitik
»Sehr geehrter Herr Dr. Oliver, Lassen Sie mich bitte gratuliere Ihnen für das neue Jahr 2015 und wünschen Ihnen alles Gute immer«. Ibrahim Hassan Alshaer bemüht sich in seinem via Facebook übermittelten Schreiben an Goslars Oberbürgermeister Oliver Junk (CDU) um den richtigen Ton. Der 30 Jahre alte Palästinenser aus dem Gaza-Streifen hat ein Anliegen: Er möchte nach Goslar kommen, nicht nur mal so zu Besuch, sondern auf Dauer. »Als ich las auf der Presse, wie Sie sind der Oberbürgermeister der Stadt Goslar und auf der Suche nach Menschen, die in der Lage sich zu bewegen und dort leben und Erhöhung des Anteils der Bevölkerung.«
Mitte November hatte sich Junk mit einem ungewöhnlichen Hilfsangebot an die Öffentlichkeit gewandt. Sein von Abwanderung und demografischem Wandel geplagtes 50 000-Einwohner-Städtchen im niedersächsischen Teil des Harzes könne viel mehr Flüchtlinge aufnehmen als bislang, schlug Junk vor. In Goslar selbst und in der Umgebung stünden Wohnungen, kleine Hotels und Pensionen leer, in denen Asylbewerber unterkommen könnten. Größere Nachbarorte wie die Universitätsstadt Göttingen, in denen Wohnraum knapp und teuer ist, würden so entlastet.
Der Vorstoß sorgte für Wirbel, Medien in ganz Deutschland, später auch aus dem Ausland berichteten darüber. Al Jazeera sendete einen Beitrag, die britischen Zeitungen »The Independent« und »The Telegraph« schickten ihre Korrespondenten in den Harz. »The German town desperate for more asylum seekers« (»Die deutsche Stadt sucht verzweifelt mehr Asylbewerber«) überschrieb letztere ihre Goslar-Reportage und illustrierte sie mit allerlei Fotos von der pittoresken Altstadt und dem Weihnachtsmarkt.
Seither haben Junk und die Stadt Goslar Hunderte E-Mails und Facebook-Nachrichten erhalten. Die meisten stammen von Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, aus dem Nahen Osten, Afrika, auch aus Ländern des früheren Jugoslawien. Auf Englisch oder in etwas holperigem Deutsch danken sie »Bruder Oliver« oder »Oberbürgermeister von Goslar Oliver Junk Esquire« und bitten ihn um eine persönliche Einladung nach Goslar, wo sie arbeiten, leben, sich integrieren wollen. »Hallo Sir Oliver Bitte senden Sie eine Freundschaftsanfrage mit Ihnen zu sprechen«, schreibt Joseph Tannous. »Sie sind eine Person würdig«, schreibt Meral Ali. Und ein Mann namens Mechri Djelloul bietet sich mit den Worten »Mögliche Arbeit in der Gemeinde« für einen Job in der Goslarer Stadtverwaltung an.
Dass von Junks Vorschlag bereits nach wenigen Tagen nicht mehr viel übrig war, haben die meisten Schreiber nicht mitbekommen. Zwar hatten die kommunalen Spitzenverbände Zustimmung signalisiert, das SPD-geführte Innenministerium in Hannover reagierte jedoch zurückhaltend und verwies auf den gültigen Verteilerschlüssel. Danach müssen zunächst die Länder je nach Einwohnerzahl und Steueraufkommen eine bestimmte Zahl von Flüchtlingen aufnehmen. Innerhalb der Bundesländer wiederum werden sie den Kommunen je nach deren Bevölkerungszahl zugewiesen.
Verärgert zeigte sich der Landrat des Kreises Goslar, Thomas Brych (SPD). Der Oberbürgermeister überschreite seine Kompetenzen. Er spreche für den Kreis, vertrete dabei aber nur eine von acht Kommunen im Kreis. Auch die Stadt Goslar, die sich bemüht, jede Anfrage zu beantworten, muss darauf hinweisen, dass Asylanträge über die offiziellen Wege eingereicht werden müssen.
Dass die offiziellen Wege einer Begradigung bedürfen oder auch ganz neue Wege eingeschlagen werden müssen, dämmert inzwischen immer mehr Politikern. Der Vorschlag von CDU-Generalsekretär Peter Tauber für ein Einwanderungsgesetz stieß am Wochenende überwiegend auf Zustimmung. »Wir brauchen eine geordnete, gut gesteuerte Einwanderung«, sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). Die saarländische Ministerpräsidentin Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) bezeichnete Deutschland als »Zuwanderungsland«. »Deshalb brauchen wir strikte Verfahren im Umgang mit Flüchtlingen sowie für die Zuwanderung von Fachkräften«, sagte sie. Wirtschaftsvertreter riefen dazu auf, Zuwanderung mehr als Chance zu sehen.
Die SPD will eine Regelung möglichst noch in dieser Wahlperiode erreichen und kündigte an, Beratungen in der Koalition voranzutreiben. Fraktionschef Thomas Oppermann wies darauf hin, dass in Deutschland künftig pro Jahr Hunderttausende Erwerbstätige fehlen würden, wenn es keine hinreichende Zuwanderung gebe. »Die Einwanderung ist in Deutschland mit positiven Effekten verbunden«, auch wenn dies nicht alle zur Kenntnis nehmen würden.
Vielleicht bekommt Ibrahim Hassan Alshaer doch noch die Chance auf eine Zukunft in Goslar. »Ich habe einen Bachelor in Computertechnik und 7 Jahre experiance in IT mit Microsoft und Apple-Zertifikate«, schrieb er. »Es wird ein Vergnügen für mich und meine Familie zu sein, um Ihre Stadt zu bewegen und beginnen ein neues Leben und neue Beziehungen zu den Menschen, die dort leben und arbeiten in Goslar Stadt.«
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