Von Übel, aber sinnvoll
Jürgen Amendt über die Notwendigkeit, trotz aller Kritik an Schulnoten festzuhalten
Die Forderung, Schulnoten abzuschaffen, wird in Deutschland erhoben, seit es die Schulpflicht gibt. Es hat viele Jahrzehnte gedauert, bis zumindest in den unteren Klassen der Grundschule Ziffernnoten durch ein anderes System der Leistungsbeurteilung ersetzt wurden. Zu wünschen wäre, dass diese Reformbemühungen bei der Grundschule nicht halt machen, sondern auch die weiterführenden Schulen sich vom Notensystem verabschieden. Alternativen gibt es reichlich.
Doch man sollte dabei nicht den zweiten Schritt vor den ersten setzen. Alternative Systeme der Leistungsbeurteilung wie z.B. Lerntagebücher können nur in einem Bildungswesen funktionieren, das nicht auf frühzeitige Aufteilung der Kinder in unterschiedliche Schulformen setzt. Die »Selektionsstufe« am Ende der vierten - in Berlin und Brandenburg am Ende der sechsten - Klasse, die über den weiteren Schulweg entscheidet, kann nur mittels Noten erfolgen. Eltern wie Lehrer wissen das, weshalb ja auch der Widerstand gegen eine Reform des schulischen Bewertungssystems in der Bevölkerung so groß ist.
Noten sind allerdings auch noch in anderer Hinsicht sinnvoll. Der Zugang zu den Hochschulen ist - anders als im Berufsbildungssystem - nach wie vor eng an Zensuren geknüpft. Während mittlerweile viele Betriebe wissen, dass Schulnoten allein keine große Aussagekraft über die Fähigkeiten eines Lehrstellenbewerbers besitzen, weshalb sie selbst Verfahren entwickelt haben, anhand derer sie ihre potenziellen Auszubildenden auswählen, werden Studenten in der Regel über ein Zulassungssystem ausgewählt, das sich an den Schulnoten orientiert. Solange nur jene Menschen ein Medizinstudium aufnehmen können, die ein Einser-Abitur haben und Fähigkeiten wie Empathie und haptisches Geschick keine Rolle spielen, sind Schulzensuren notwendig.
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