Noch immer keine Erkenntnisse zu MH17?

Niederländische Experten erneut im Abschussgebiet / Russisches »Panzir«-Raketensystem in der Ostukraine?

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Abschuss von Flug MH17 am 17. Juli vergangenen Jahres über der Ostukraine war - egal ob er aus Versehen oder mit Absicht geschah – ein Kriegsverbrechen. Dessen Aufklärung noch immer hintertrieben wird. Am Sonntag verhandelten niederländische Experten wieder mit Vertretern des lokalen Katastrophendienstes und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) über den erneuten Zugang zum Abschussgebiet.

17. Juli 2014, gegen 16:20 Uhr Ortszeit. Eine Boeing 777 der Malaysia Airlines mit der Flugnummer MH17 wurde über der Ostukraine abgeschossen. Die Maschine befand sich auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur. An Bord waren 193 Niederländer, 43 Malaysier, 27 Australier, zwölf Indonesier, zehn Briten, vier Deutsche, vier Belgier, drei Philippiner, ein Kanadier und ein Neuseeländer. Es gab keine Überlebenden, wohl aber gibt es weiterhin weltweit Spekulationen über den Abschuss von MH17.

Nahezu alle Experten sind sich einig: Die tödliche Waffe war eine Rakete. Doch wer feuerte sie ab? War es ein ukrainischer Kampfpilot, wie vor allem die russische Seite behauptet? War es die Bedienung einer BUK-Boden-Luft-Raketenrampe? Und wenn ja, unter wessen Befehl stand sie? Gehörten die Soldaten der 53. russischen Luftverteidigungsbrigade aus Kursk an, die ohne Hoheitszeichen auf ukrainischem Gebiet operierten, um Bodentruppen Deckung zu bieten? Oder waren es unerfahrene Angehörige der sogenannten Separatisten-Verbände, die eine BUK-Batterie der ukrainischen Armee erobert und das Passagierflugzeug mit einer Feindmaschine verwechselt hatten? Echte oder angebliche Beweise für die jeweilige Täterschaft gibt es zuhauf. Doch wer trennt die Spreu vom Weizen? Die Leitung der Untersuchungen wurde von den Niederlanden übernommen.

Über ein halbes Jahr ist vergangen, ohne dass es akzeptable Antworten gibt. Ein Zwischenbericht im September basierte auf ersten Untersuchungen des Cockpit Voice Recorders, der Blackbox und der Daten von Flugsicherheitskontrollen. Nichts in den Stimmaufnahmen deutet daraufhin, dass es technische Schwierigkeiten oder einen Notfall gegeben hat. Auch die Blackbox habe keine technischen Probleme registriert. Die Schäden an Rumpf und Cockpit entsprächen denen, die entstehen, wenn ein Flugzeug von mehreren Objekten in Hochgeschwindigkeit durchsiebt werde, hieß es. Das ist unübersehbar und deutet darauf hin, dass die Maschine in die Schrapnell-Wolke einer explodierenden Rakete geflogen ist.

Es seien, so hieß es im September, weitere Untersuchungen notwendig, um genau festzustellen, was den Absturz der Maschine verursacht habe. Die Kommission räumte sich selbst viel Zeit für weitere Untersuchungen ein. Wohl vor allem aus politischen Gründen. Man wollte und will offenbar vermeiden, Öl in den ukrainischen Kriegsbrand zu gießen. Den endgültigen Untersuchungsbericht, so hieß es im September, wolle man spätestens zum Jahrestag des Unglücks vorlegen. Doch ging man davon aus, dass bis dahin zahlreiche weitere Beweismittel gefunden und öffentlich gemacht werden.

Davon ist nichts zu merken. Während die Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee und den Aufständischen auch rings um das Abschussgebiet weitergehen, trafen am Wochenende erneut niederländische Soldaten und Flugunfallexperten in Donetsk ein. Sie sammelten Informationen über die aktuelle Sicherheitslage und diskutierten - unterstützt von Vertretern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) - Möglichkeiten, um in das Absturzgebiet zu gelangen. Man will weitere Teile der Maschine bergen sowie noch vorhandenes Hab und Gut der Insassen übernehmen. Auch rechnet man damit, weitere Leichenteile zu finden, die dann am kommenden Samstag respektvoll in die Niederlande überführt werden sollen. Laut Expertenaussagen sind bislang Leichenteile von 295 Menschen identifiziert worden. Von drei niederländischen Insassen fehlen noch jegliche Hinweise.

Weniger erfolgreich sind die Spezialisten bei der Bestimmung der Täterschaft. Auffällig ist, dass sich die USA offenbar völlig aus der Debatte zurückgezogen haben. Unmittelbar nach dem Abschuss hatte Washington vehement behauptet, über Beweise dafür zu verfügen, dass russische Luftabwehreinheiten für das Verbrechen verantwortlich sind. Man verwies auf Satellitenaufnahmen, legte die aber nicht einmal im Kreise der Verbündeten vor. Aus Kiew kommt inzwischen auch nur Schweigen. Moskau bemängelt, dass die Ermittlungen »unter grober Verletzung der Normen der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation« geführt würden.


Auch der Bundesnachrichtendienst (BND) erarbeitete einen offiziellen Bericht. BND-Präsident Gerhard Schindler legte am 8. Oktober 2014 vor den Mitgliedern des Parlamentarischen Kontrollgremiums Gründe dar, warum der deutsche Auslandsgeheimdienst von einer Schuld der prorussischen Separatisten ausgeht. Schindler erneuerte die Variante des von den ukrainischen Streitkräften erbeuteten BUK-Komplexes.

Mit keiner Silbe erwähnte er, dass BND-Analytiker unmittelbar vor und unmittelbar nach der Tat auch das Luftabwehrsystem »Panzir« (NATO-Codename SA-22 Greyhound) im Separatistengebiet ausgemacht haben wollten. Mit ihm können sämtliche Luftziele in Entfernungen von 0 bis 20 000 Metern in Höhen von 0 bis 10 000 Metern mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit bekämpft werden. Das Waffensystem wäre also in der Lage gewesen, die zivile Malaysia-Boeing abzuschießen. Anders als die bislang ausgemachten BUK- sind »Panzir«-Systeme nur in der russischen, nicht der ukrainischen Truppenluftabwehr zu finden. Jeder Hinweis auf eine mögliche »Panzir«-Beteiligung käme also einer Schuldzuweisung gleich – das wäre politisch brisant und wohl keinesfalls förderlich für dringend notwendige Gespräche über die Frontlinien hinweg.

Vor wenigen Tagen tauchte nun auf der Nachrichtenplattform Twitter ein Foto auf, das dieses hochmoderne bewegliche »Panzir«-Waffensystem angeblich in Makijewka, also einem Teil von Donetsk, zeigt. Sollten die Angaben zu dem Foto stimmen, dann wäre zumindest nachgewiesen, dass russische Truppen derzeit in der Ostukraine über das hochmoderne System verfügen.

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