Ursprüngliche Akkumulation heute

Unnötige Begriffsdiskussion oder gegenwartsbezogener Erkenntnisgewinn? Über eine Marx-Vortragsreihe in Berlin

  • Ralf Hutter
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Kapitalismus gibt einer ganzen Epoche ihren Namen, weil sich die Vermehrung von Kapital in einem Kreislauf von Investition und Profit unter historisch besonderen Umständen vollzieht - nicht jeder beliebige Reichtum der Menschheitsgeschichte war Kapital in dem Sinn, wie Karl Marx ihn definierte. Wie es zu dieser historischen Situation gekommen war, behandelte Marx in Kapitel 24 des ersten »Kapital«-Bandes. Es geht darin um »die sogenannte ursprüngliche Akkumulation«, um den »Sündenfall«, der die erwähnte Kreisbewegung des Kapitals in Gang setzte.

Die wohl wichtigste Voraussetzung für Kapitalismus ist die Trennung der Masse der Menschen von ihren Produktionsmitteln und die Verwandlung letzterer in Kapital. Marx erzählt diese gewaltvolle Enteignung im Fall Englands nach - wollte aber damit keine historisch komplette Analyse abliefern, sondern vor allem den Mythos von der Natürlichkeit des Kapitalismus bekämpfen, sagte Stefan Kalmring am Sonntagabend bei einem Vortrag, der von der »Jour Fixe Initiative« organisiert worden war.

Die Theoriegruppe veranstaltet seit vielen Jahren Vortragsreihen und veröffentlicht dazugehörige Bücher. Die diesjährige Reihe heißt »Die unheimliche Akkumulation« und wurde am Sonntag eröffnet. Kalmring, Referent für Politische Bildung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, führte zusammen mit Maria Backhouse vom Freiburger Arnold-Bergstraesser-Institut in das Thema ein. Rund 70 Menschen waren in den überfüllten Veranstaltungsraum der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin-Kreuzberg gekommen.

Es geht bei der Reihe darum, aktuelle Prozesse des Übergreifens kapitalistischer Prinzipien auf noch nicht kapitalisierte Bereiche unter den Begriff »ursprüngliche Akkumulation« zu fassen. Kalmring und Backhouse nannten etwa die Patentierung von Genen, die Privatisierung kollektiv genutzten Landes und Luftverschmutzungszertifikate. 2013 haben sie ein Buch zu diesem Themenbereich mitherausgegeben. Doch den Nutzen des besagten Oberbegriffs für die Gegenwart konnten sie nicht allen Anwesenden vermitteln, wie einige Wortmeldungen im Anschluss zeigten.

In ihrem Durchgang durch neuere theoretische Ansätze grenzten sie sich von Begriffen ab, die im Grunde dasselbe meinen, vor allem: »neuer Imperialismus« (David Harvey), »äußere und innere Landnahme« (Klaus Dörre), »Inwertsetzung von Natur« (Christoph Görg). Dem hielten sie die Rede von der »wiederholten ursprünglichen Akkumulation« entgegen. Das solle betonen, dass die grundlegenden kapitalistischen Aneignungsprozesse, die gerade nach Großkrisen wie der aktuellen folgen müssten, je nach Ort und Zeitpunkt sehr unterschiedlich sein können, sagte Kalmring auf die wiederholte Begriffskritik aus dem wie immer theoretisch versierten (in seiner Mehrheit aber wohl vom Vortrag angetanen) Publikum.

Wird hier eine unnötige Begriffsdiskussion angeschoben? Die weiteren monatlichen Vorträge müssen zeigen, ob die Kategorie »ursprüngliche Akkumulation« einen gegenwartsbezogenen Erkenntnisgewinn bringt. Es wird dabei auch um Geschlechtertrennung und Migration gehen.

www.jourfixe.net

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