Falsche Zustände. Nur mit uns.

Ideologien geben vor, Bestehendes zu beschreiben. Tatsächlich haben wir es jedoch mit der Rechtfertigung bestehender Zustände zu tun. Ideologiekritik ist deshalb notwendiger denn je. Von Gerhard Schweppenhäuser

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Wort »Ideologie« begegnet einem auf Schritt und Tritt. Der Architekturkritiker der »Süddeutschen Zeitung« spricht von der Ideologie des Eigenheims auf der grünen Wiese, »Spiegel Online« beobachtet den russischen Präsidenten im »ideologischen Kampf gegen den Verfall der Werte, gegen die Verweiblichung und Verweichlichung der Gesellschaft, kurz: gegen alles Unrussische«.

Das Wort wird im Alltag also gern benutzt, um das anständige Denken der Eigengruppe von dem der Fremdgruppe, der »Ideologen«, abzugrenzen. Sozialwissenschaftler tun sich da schwerer. Manche sprechen vom »ideologiefreien Zeitalter« der Gegenwart; andere verstehen unter einer Ideologie ganz neutral ein beliebiges Wertesystem oder eine Weltanschauung. Meistens wird das Wort verwendet, um alle möglichen Formen des Denkens auf ihre soziale oder kulturelle Herkunft zurückzuführen. Dieser Ideologiebegriff steht im Plural: »Ideologien« sind dann Weltanschauungen, die alle mehr oder weniger wahrheitsfähig und gerechtfertigt sind. Man belässt es beim Aufzählen und Ordnen. Aber es gibt kein Kriterium, um zwischen wahren und unwahren Aussagen oder legitimen und illegitimen Behauptungen zu unterscheiden.

Gegen den polemischen und gegen den neutralisierenden Gebrauch muss deshalb erneut ein kritischer Ideologiebegriff ins Spiel gebracht werden. Im Gegensatz zu den »Ideologien« der Soziologie im Plural ist Ideologie im Singular eine philosophische Kategorie. Marx, der in seinen früheren Schriften selbst einen neutral-pluralen Begriff von Ideologie verwendete (klassenspezifische, fortschrittliche oder reaktionäre Weltanschauungen), hat ihn in seiner Ökonomiekritik formuliert. Demnach ist »der ideologische Schein ein objektiver Schein, weil die Divergenz von Wesen und Erscheinung der Gesellschaft genetisch auf den Widerstreit zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zurückverweist« (Herbert Schnädelbach).

Marx’ Theorie vom »Fetischcharakter der Ware« besagt, dass Vergesellschaftung über die Mechanismen des Warentauschs gesteuert wird. Der freie und gleiche Tausch von Waren ist in bestimmter Hinsicht Schein: Das Kernstück der kapitalistischen Produktionsweise, der Arbeitsvertrag, verbindet zwei Kontrahenten, von denen einer gezwungen ist, seine Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, während der andere über Produktionsmittel verfügt, an denen die Arbeitskraft mehrwertbildend eingesetzt werden kann. Freiheit und Gleichheit sind objektiver Schein - die Vorstellung vom Privateigentum, das auf der eigenen Leistung beruht, ist wahr und falsch zugleich.

Auch die Rede von ökonomischen »Sachzwängen« ist eine Gestalt des Warenfetischismus. In der politischen Rhetorik kann sie sich als aufrichtig gemeinte Formel von der »Alternativlosigkeit« (Merkel) oder im zynischen Satz »It’s the economy, stupid« (Thatcher) ausdrücken.

Dass der Warencharakter die lebendige Arbeitskraft wie ein berechenbares und austauschbares Ding erscheinen lässt, dürfte im Übrigen der Grund für den Erfolg der Quantified-Self-Bewegung sein, deren Anhänger sich rund um die Uhr mit Hilfe von allerlei Apparaten überwachen und messen lassen, um die Daten zur »Selbstoptimierung« zu nutzen.

Im 20. Jahrhundert wurden neue Formulierungen des Ideologiebegriffs vorgeschlagen, die den Transformationen der kapitalistischen Gesellschaften Rechnung tragen. Für Adorno waren Ideologien philosophische oder soziologische Rechtfertigungslehren: »objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein, Verschränkung des Wahren und Unwahren, die sich von der vollen Wahrheit ebenso scheidet wie von der bloßen Lüge«. Ideologien glätten Widersprüche, die darauf zurückzuführen sind, dass in der Sache, die legitimiert wird, unversöhnliche Gegensätze stecken, die sich in der Theorie nicht auflösen lassen.

Adorno hielt das klassische Konzept der Ideologiekritik aber für überholt. Er meinte, ausgearbeitete Legitimationstheorien gesellschaftlicher Herrschaft würden im Spätkapitalismus nicht mehr benötigt. Sein Paradebeispiel dafür war der Nationalsozialismus, der es zu einer seriösen Ideologie nicht mehr gebracht hat, aber auch keine brauchte: »Wo bloße unmittelbare Machtverhältnisse herrschen, gibt es eigentlich keine Ideologien.«

Adornos Formel: Ideologie ist nicht mehr im wissenschaftlichen Bereich und im geistig-kulturellen Überbau beheimatet; sie ist in die soziale Basis selbst eingewandert. Herrschaftsverhältnisse sagen gleichsam unmittelbar aus, dass sie unveränderbar und unüberwindlich sind. Spezialisten zur Produktion komplexer und wohlbegründeter Rechtfertigungslehren sind überflüssig geworden, meinte Adorno - auch nach dem Nationalsozialismus.

Diese These ist theoretisch elegant - aber ist sie auch plausibel? Um das zu überprüfen, betrachten wir zwei Beispiele für Ideologieproduktion.

Im Bundestagswahlkampf 2013 warb die FDP mit einem Slogan, den ihre Werbeagentur vermutlich für kraftvoll hielt: »Starkes Deutschland. Starkes Europa. Nur mit uns.« Angesichts deutscher Wirtschaftsdominanz in der Eurozone ist die Behauptung, die Erweiterung deutscher Macht stärke ganz Europa, in der Tat ein starkes Stück. Sie beruht darauf, dass konkurrierende Ökonomien niedergeworfen werden, die sich nicht mehr durch Abwertung der Landeswährung gegen die Übermacht der Exporte schützen können. Man hat das als Wirtschaftskrieg bezeichnet. Der Wahlkampfslogan der FDP rechtfertigt ihn mit Schlagworten. Dabei wird ein Postulat in eine Tatsachenbeschreibung verwandelt. Das Postulat lautet: Deutschland soll mächtig bleiben und noch mächtiger werden, weil dies in unserem Interesse liegt. Die vermeintliche Tatsachenbeschreibung lautet: Deutschlands Macht ist gut für Europa, sie tut Europa gut. Ein normativer Satz wird so verdreht, dass er als deskriptiver Satz erscheint. Und wirtschaftliche Stärke wird als etwas per se Gutes unterstellt.

Diese Ideologie kann für sachadäquat gehalten werden, auch wenn sich zeigen lässt, dass sie es nicht ist. Kurz- und mittelfristige Extraprofite werden auch der Bundesrepublik nicht aus der permanenten Überakkumulationskrise heraushelfen. Gleichwohl kann man diesen »objektiven Schein« für die Wahrheit halten. Warum, ist unerheblich - ob man als kleiner oder mittlerer Unternehmer auf Extraprofite angewiesen ist oder ob man als Wirtschaftsprofessor in Mittelstandsstudiengängen materiell und geistig von neoliberalen ökonomischen Doktrinen lebt.

Der Bertelsmann-Konzern ließ, zusammen mit der Deutschen Hochschulrektorenkonferenz, vor 20 Jahren eine Stiftung gründen, das »Gemeinnützige Centrum für Hochschulentwicklung«. Bis heute treibt man die Kommerzialisierung von Forschung und Lehre voran und räuchert akademische Freiräume mit CHE-Rankings aus. Die europäischen Universitäten haben sich den Vorgaben des entfesselten Marktes unterworfen, der Name »Bologna« wurde zur Sieger-»Marke« auf dem Bildungsmarkt. Dies wurde nicht einfach nur per Dekret durchgesetzt; es ging mit ideologischen Begründungen einher, die Hochschullehrer und Bildungspolitiker offenbar brauchten, um sich damit zu identifizieren.

Die Kritik der Bologna-Reform, die der Berliner Philosoph Volker Gerhardt kürzlich in der Verbandszeitung der Universitätsprofessoren veröffentlicht hat (»Forschung und Lehre«, Heft 11/2014), ist ein Beleg für Ideologieproduktion mittlerer Komplexität. Die Ziele der Reform erscheinen ihm lobenswert: mehr »Praxisnähe«, Verringerung der Studienabbrecherzahlen, Differenzierungsmöglichkeit nach Begabung durch gestufte Abschlüsse und europäische Vergleichbarkeit. Europa hätte so zum »Lebensraum für die junge Generation« werden können. Leider habe die Politik versagt, als es galt, diese Reform in die Tat umzusetzen. Sie habe die ›Vielfalt der Traditionen‹ und die ›Differenz der Lebensformen‹ in Europa vernachlässigt, schreibt Gerhardt. Im Klartext: Bologna hat die Humboldt-Universität als deutsches Alleinstellungsmerkmal im bildungsökonomischen Konkurrenzkampf ins Hintertreffen gebracht. Bei Gerhardt klingt das aber so: Im »Übereifer [der] Umsetzung in administrative Maßnahmen« wurde »vergessen«, dass Europa von der »Konkurrenz innerhalb einer nach Freiheit, Wohlstand und Sicherheit strebenden politischen Gemeinschaft« lebt. Dieser friedliche Wettstreit sei durch eine falsche Umsetzung lobenswerter Intentionen »aufs Spiel gesetzt« worden. »So kam es zu der verhängnisvollen Verwechslung von Vergleichbarkeit und Vereinheitlichung«. Damit stellt Gerhardt eine unausgesprochene Normvorstellung - die bürgerliche Gesellschaft als Kampfplatz konkurrierender Individuen und Gruppen - als real existierende Idylle politischer Markt- und Gewerbefreiheit dar. Er verkleidet seine Legitimation des Bestehenden als mutige Kritik.

Adornos These, politische Kontrolle und wirtschaftliche Ausbeutung bedürften im Spätkapitalismus keiner ideologischen Legitimation mehr, trifft nicht zu - schon gar nicht im Turbokapitalismus der Gegenwart. Hier sind Ideologien als Theorien wirksam, die auftreten, als würden sie das Bestehende beschreiben, aber in Wirklichkeit unausdrücklich unterstellen, was sein soll, und damit soziale und kulturelle Praktiken etablieren. Insofern sind sie - mehr oder weniger theoretisch ausgearbeitete - Rechtfertigungen von falschen Zuständen. Ideologiekritik ist eine Denkform, die deren inneren Widersprüche und ihre verhüllte normative Funktion aufzeigt. »Indem Ideologiekritik das Normative als solches erkennbar macht«, so die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi, »nimmt sie ihm seine zwingende Kraft«. Und das ist auch bitter nötig.

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