Kind, Küche, Karriere
Angepasst ins Glück: Die Frauen der »Generation Y« definieren alte Werte neu
Selbst ein bebend betriebsamer Bahnhof in Berlin kann eine Stätte geistiger Anregung sein. Es ist Samstagabend, ich stehe an der Friedrichstraße und warte auf die mich zu einer Geburtstagsfeier bringende S-Bahn. Plötzlich fällt mein Blick auf diesen pinken Lichtstrahl, der sich in den Fensterscheiben bricht und auf dem kalten Boden verharrt. Wie hypnotisiert quetsche ich mich durch die Ströme orientierungsloser Touristen und alkoholisiert umherwankender Teenager zum Gleisende und erblicke im gegenüberliegenden Bauwerk auf Laufbändern parallel vor sich hin keuchende Frauen. Im gleißenden Geleucht bonbonfarbener Reklametafeln der exklusiv für die holde Weiblichkeit errichteten Körperformfabrik »Hard Candy Fitness Women« lassen sich die leidend dreinblickenden Mädels schicksalsergeben ihre zarten Schweißperlen von den juvenilen Nasenspitzen tropfen.
Sofort schwirren mir etliche Fragen durch den Kopf. Warum tun die sich das nur an? Macht es wirklich glücklich, sich in stickigen Räumen derart zu verausgaben? Steht dieses hamsterhafte Abstrampeln vielleicht sogar allegorisch für die kaum mehr zu erfüllenden Leistungsanforderungen in dieser beschleunigten Gesellschaft? Um nicht wie ein gaffender Lustmolch zu wirken, hüpfe ich nach kurzer Zeit durch die schon mahnend piepsenden Türen in den abfahrbereiten Zug hinein. Auf der Fete angekommen, gehen sie mir einfach nicht aus dem Sinn, diese so dynamisch darbenden Damen.
Die meisten Partygäste gehören - wie ich - der sogenannten Generation Y an. Das Y - im Englischen ausgesprochen wie »Why« (»Warum«) - ist jener Buchstabe, der die zwischen 1985 und 2000 Geborenen medial auf den Punkt bringen soll. Sozialwissenschaftler haben sich dieses Schlagwort ausgedacht, weil es logisch auf die »Generation X« betitelten Jahrgänge zwischen den Sechziger und den frühen Achtziger Jahren folgt. Hinter dem schnarchig anmutenden Begriff steckt mehr Raffinesse als man vermuten könnte. Denn junge Menschen hinterfragen immer häufiger den Sinn des eingependelten Wertesystems. Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht beschreiben in ihrem auf der aktuellen Shell-Jugendstudie beruhenden Buch die Protagonisten der Generation Y als »heimliche Revolutionäre«, die »pragmatisch und optimistisch auf ihr Leben blicken« und »Bildung, Beruf, Familienleben neu erfinden, politische Strukturen unterwandern und neue Maßstäbe für die Freizeit setzen«.
Es ist dieser mir aus einer Zeitungsrezension irgendwie im Gedächtnis gebliebene Satz, den ich im Kopf habe, als in der WG-Küche ein Dialog zweier Mittzwanzigerinnen mein Interesse weckt. Während ich fieberhaft nach einem Flaschenöffner für mein Bier suche, dringen Gesprächsfetzen von »beruflicher Orientierung« in meine Ohren. Eine der jungen Frauen hat gerade ihr Studium abgeschlossen und erklärt in raumgreifend-selbstbewusster Pose, sie wolle jetzt erstmal ins Ausland gehen und danach nur einen Job annehmen, der in ihre Lebensplanung passe. »Work-Life-Balance« sei ihr sehr wichtig, betont sie unter melodisch zustimmendem Summen ihrer Gesprächspartnerin. Arbeit, sekundiert Letztere, sei nicht so wichtig. Klar müsse die Bezahlung stimmen, aber was bringe das rasende Hinaufhechten auf der Erfolgsleiter, wenn dabei der Wunsch nach Kindern und einer erfüllten Partnerschaft auf der Strecke bleibe?
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Die beiden sprechen für die Mehrheit der gut ausgebildeten Frauen ihrer Generation in Deutschland. Ursula Kosser hat das in ihrem Buch »Ohne uns. Die Generation Y und ihre Absage an das Leistungsdenken« plausibel aufgeschrieben. In Anlehnung an einen aufsehenerregenden Artikel aus der »New York Times« spricht die Journalistin darin von einer »Opt-Out-Revolution«. Bei jungen und hochqualifizierten Frauen lasse sich tendenziell ein Sinneswandel erkennen. Immer mehr von ihnen pfeifen demnach auf eine steile Karriere, quittieren freiwillig ihren vielversprechenden Job und widmen sich der Familie und den Kids. Kerstin Bund, eine Nachwuchshoffnung der Wochenzeitung »Die Zeit«, bestätigt genau das in ihrem 2014 für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis nominierten Essayband »Glück schlägt Geld«: »Eine Arbeit, die Freude bringt, ist wichtiger als ein Gehalt, das Schmerzensgeld für verkaufte Lebenszeit zahlt.« Anstellungen im klassischen Erwerbsarbeitskorsett mit 40 Stunden wöchentlicher Büropräsenz und ganzjähriger Freude auf den kurzen Sommerurlaub erscheinen ihr »wie Knast mit vier Wochen Urlaub«.
Als ich am Tag nach der Feier beide Bücher durchblättere, bin ich baff. Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren die Chancen so gut wie heute, eine wirklich allumfassende Gleichberechtigung aller Geschlechter herzustellen - trotz im Ganzen noch immer himmelschreiend ungerechter Verhältnisse. In der Schule hängen die Mädchen die Jungs ab, in den Hochschulen studieren Frauen erfolgreicher als Männer. Und diese Frauen sagen jetzt mal eben: Solange wir in dieser Arbeitswelt so fremdbestimmt leben, verweigern wir uns. Was mir in diesem Moment tiefen Respekt einflößt, lässt mich schon im nächsten wieder skeptisch werden. Denn ich erinnere mich an den weiteren Verlauf des Vorabends.
Glücklich mit der entkorkten Bierflasche ins Wohnzimmer schlendernd, sind mir in einer hinteren Ecke mehrere feixende Frauen aufgefallen, die ich auf fünfzig bis sechzig Jahre schätze. Eine von ihnen beginnt sofort, mich auszufragen: Wie ich heiße? Woher ich die Gastgeberin kenne? Wo ich arbeite? Eine Frage, deren Beantwortung ein jedes Gespräch zwangsläufig auf meine linke politische Gesinnung lenkt. Sie verstehe sich auch als links, ruft sie aufgeregt, genauer gesagt als Feministin. Jovial schüttelt die sympathische Dame die eine oder andere Anekdote aus ihrer kämpferischen Kreuzberger Jugend aus dem Ärmel, und schiebt resümierend nach: »Wir haben uns immer dafür eingesetzt, die klassische Rollenidentität vom Heimchen am Herd zu beseitigen und dem Patriarchat so richtig eins auf die Fresse gegeben!« Wie sie da so mit entschlossenem Blick sitzt, die eine Hand zur Faust geballt und mir mit der anderen zuprostend, fällt mir ein eigentümlicher Kontrast zwischen Küche und Wohnzimmer auf.
Jahrzehntelang sind Frauen massiv für das Recht eingetreten, Karriere machen zu können. Sie haben dafür nicht nur gegen die Männer gewütet, sondern auch gelernt, sich strategisch anzupassen. Sie imitierten sozusagen das soziale Geschlecht des Mannes, lachten an schlechten Hotelbars beim Whisky im Hosenanzug über zotige Herrenwitze, gewöhnten sich strenge Tonlagen an und fuhren die Ellbogen aus, wenn es nötig erschien. Nun wollen aber die Frauen der Generation Y, denen die Feministinnen den Weg geebnet haben, diese Errungenschaften gar nicht mehr weiterentwickeln. Sie propagieren eine »Rückkehr zur Weiblichkeit« und versuchen, sich stattdessen an dem altmodischen Dreiklang »Kind, Küche, Kirche« zu orientieren und daraus die neue spießige Formel »Kind, Küche, Karriere« zu basteln.
Für den Rest des Abends versuche ich, diese Gedanken zu verdrängen und meide jede Unterhaltung, die auch nur ansatzweise das »Frauen der Generation Y«-Thema berührt. Steht es mir als Mann eigentlich zu, denke ich, darüber zu urteilen? Kann ich diese Dinge überhaupt richtig einschätzen? Fragen, die zu beantworten mir unmöglich erscheint, und dennoch lässt mich das Erlebte nicht los - und ich lese mich tagelang in den Büchern von Kosser und Bund fest. Bei Kosser lese ich: »Karriereabbrechende Männer werden viel eher als Feiglinge, Aussteiger oder Loser wahrgenommen als Frauen. Ein Mann muss seine Karriere irgendwie durchstehen, oder er gilt als Versager; eine Frau kann sich aufs Frausein zurückziehen und wird dafür auch noch von der Schwiegermutter gelobt.« Solche Worte streicheln natürlich die männliche Seele. Zumal ihnen ein wahrer Kern sicher nicht abzusprechen ist.
Trotzdem bleibe ich verwirrt. Arbeit ist für die neuen Frauen nicht alles, Familie und Reihenhaus haben auch ihren Reiz. Aber Karriere machen wäre in gewisser Weise schon cool. Worin sieht sie denn nun den Sinn ihres Lebens, die Generation Y? Erst der knackige Satz aus einer aktuellen Streitschrift einer weiteren Frau vertreibt meine Irritation: »Sinn und Nutzen sind deckungsgleich geworden«, schreibt Christiane Florin in »Warum unsere Studenten so angepasst sind«. Männliche wie weibliche Ypsiloner, meint die junge Uni-Dozentin, haben ein völlig anderes soziales Bewusstsein als ihre Vorgänger-Generation: »Die Soziale Frage wirkt auf sie wie ein akademisches Konstrukt vergangener Tage. Social Media, Urban Gardening und Containern reichen als Ausweis sozialer Sensibilität. Occupy war eine Zeitlang cool, aber es ist leichter, gegen eine anonyme Finanzindustrie zu sein als für Mandy aus der Hartz-IV-Familie in Bonn-Dransdorf.«
Florins Polemik vordergründig widersprechend, schreibt Kerstin Bund in ihrem von der Unternehmerlobby viel gelobten Buch über ihre Generation: »Für uns ist Aufmüpfigkeit kein Wert an sich. Wir halten es für klüger, uns mit der rauen Welt der Wirtschaft und Politik zu arrangieren, anstatt gegen sie anzubrüllen.« Schließlich sei die Welt so komplex geworden, dass keine einfachen Antworten mehr helfen. »Warum«, fragt sie, »sollten wir das gegenwärtige System stürzen, wenn es uns so viele Freiheiten bietet wie nie zuvor?« Im Ton weniger euphemistisch, beschreibt Christiane Florin all das genauso: »Anpassung verspricht Erfüllung, und erfüllt lebt, wer diffuse Ansprüche erfüllt.« Sei es nun, so lerne ich, im Abstrakten die nicht zu hinterfragende Anerkennung des Unsinns, dass der Kapitalismus das Ende der Geschichte sein soll, oder konkret die neoliberale Gesundheitsdiktatur, der sich insbesondere Frauen immer häufiger unterwerfen. Seitdem sehe ich sie, wenn mir am S-Bahnhof Friedrichstraße wieder einmal das pinke Gefunkel auffällt, in ganz neuem Licht, all die stramm schwitzenden Mädels im Frauenfitnessstudio »Hard Candy«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.