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Das Schweigen der Väter

Verena Boos stellt sich mit »Blutorangen« einer Herkulesaufgabe

  • Josephine Schulz
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Geschichte soll man ruhen lassen, die Toten auch. Über ihre Gräber baut man Straßen und Bibliotheken, das Leben geht weiter, die jungen Menschen vergessen. Und die, die nicht vergessen können, weil sie beteiligt waren, schweigen. Wenn nötig, ein ganzes Leben. Aber: »Aussöhnung kann es nur geben, wenn alle zu ihrem Recht kommen«, schreibt Verena Boos in ihrem Roman »Blutorangen«, »Gerechtigkeit für die Opfer und ein fairer Prozess für die Täter«. Boos öffnet Gräber, die so eifrig verschlossen wurden wie in kaum einem anderen europäischen Land - die des Faschismus unter Franco. Statt Aufarbeitung dominiert in Spanien ein Pakt des Schweigens.


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* Verena Boos. Blutorangen. Roman.
Aufbau Verlag. 411 S., geb., 19,95 €.


Den ganz großen Stoff hat sich die Autorin in ihrem Debütroman vorgenommen. 70 Jahre spanische Geschichte, drei Generationen. Erinnerungen von der Front in Russland über Flüchtlingslager in Frankreich bis hin zu Orangenfarmen in Südspanien. Sie widmet sich diesem Thema aus dem Dilemma der heutigen Generation heraus, dem schmalen Grat zwischen Familienfrieden und dem Erkennen elterlicher Schuld.

Die junge Spanierin Maite kommt zum Studieren nach München. Sie entflieht der kalten Strenge des Vaters, sucht in Deutschland nach Freiheit und Ruhe. Was sie findet, ist Carlos - ein Enkel spanischer Flüchtlinge. Als sie auf dem Bauernhof seiner Familienfreunde ein Foto von einem Soldaten in Wehrmachtsuniform entdeckt, werden München und die Familie von Carlos für sie der Schlüssel zum Rätsel ihrer eigenen Vorfahren. Zu einer Geschichte, nach der sie nie zuvor gefragt hat, von der sie nur das Schweigen kennt, es fälschlicherweise als Lieblosigkeit empfunden hat. Ein Schlüssel vor allem zu ihrem Vater, der in ihrer Erinnerung eben diese Uniform trägt.

Carlos’ Großvater nimmt sie mit in die Vergangenheit. Er bringt sie ins spanische Kulturzentrum zu geflohenen Kommunisten, die von Gräueltaten der Guardia Civil berichten. Er erzählt ihr von der eigenen Flucht, von den Massengräbern voller »Roter«, die bis heute als Vermisste gelten. Maites Leben in München wird zu einer Abrechnung mit dem Vater - zu einem Weg, ihn kennenzulernen.

Stück für Stück lüftet Verena Boos das Geheimnis zweier Familien. Sie springt zwischen den Jahrzehnten, den Ländern, den Personen und entwirft einen Flickenteppich aus Momenten, die sich allmählich zu einem Ganzen fügen. Sie hat sich viel vorgenommen. Allen Figuren will sie gerecht werden, jeder soll zu Wort kommen, die Chance bekommen, sich zu erklären.

Der Plot ist gut gebaut, zu gut möchte man fast meinen. Denn das Muster scheint bekannt. Es erinnert an Eugen Ruges »In Zeiten des abnehmen Lichts« - ein raffiniertes, aber wie nach Lehrbuch gebautes Generationenporträt. 411 Seiten für die Aufarbeitung des Franco-Faschismus? Das kann nicht reichen, mag man glauben. Aber sie tun es. Sie sind sogar zu viel, denn relativ früh entwirren sich die Fäden, die großen Familiengeheimnisse treten ans Licht. Dann wird die Geschichte wieder und wieder erzählt, angereichert mit immer neuen Details. Nichts möchte die Autorin im Dunkeln lassen. Das ist angesichts der Schwere des Stoffes verständlich, dem Tempo der Geschichte tut es nicht immer gut.

Boos lässt ihre Protagonistin in Bibliotheken und Archiven über den Franco-Faschismus recherchieren. Das wirkt oft wie untergeschobener Geschichtsunterricht. Und auch ein paar mal zu oft legt sie Maite moralische Plädoyers in den Mund, die pathetisch daherkommen, und weniger sie als eine Verena Boos als Schöpferin vermuten lassen. In solchen Momenten weicht sie ab von der sterilen Sprache, die oft artifiziell ist, statt - wie es der Geschichte dienlich wäre - sich hinter der Handlung zu verstecken.

Verena Boos stellt sich in »Blutorangen« einer Herkulesaufgabe: die Aufarbeitung einer grausamen Diktatur, ohne zu verurteilen, ohne zu relativieren. Im Großen gelingt ihr diese Herausforderung. Sie schafft Verständnis für die Figuren, ohne sie von ihrer Schuld freizusprechen.

»Blutorangen« ist ein Debüt, das sich abhebt. Verena Boos - Jahrgang 1977 - ist ihre Reife anzumerken. Alle Vorwürfe, mit denen sich Jungautoren bei ihren Erstlingswerken oft konfrontiert sehen - Irrelevanz, Selbstbezogenheit, Oberflächlichkeit - sind bei »Blutorangen« fehl am Platze. Verena Boos hat etwas zu sagen, das es wert ist, gehört zu werden. Sie geht in die Tiefe, ohne sich an dem schweren Stoff zu übernehmen.

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