»Man kann nichts tun, außer gern zu leben«
Zum Tode des bedeutenden Schauspielers Fred Düren
Es war ein wunderschöner Sonntagvormittag, als die Nacht blau wurde. Operettenblau. Derart romantisch eingehaucht leuchtete der Rundhorizont auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin. War’s einst so bei der »Schönen Helena«? Jener Offenbach-Operette, die in den sechziger Jahren durch den Witzklugkopf von Peter Hacks und durch die Regiezauberhand von Benno Besson gegangen war, und in der Fred Düren den fein-blasierten Prinzen Paris gespielt hatte, als Partner von Elsa Grube-Deister? Operettenblau also. Das war in jener Stunde vor sieben Jahren, da Düren zum Ehrenmitglied des DT ernannt wurde. Ein Ritterschlag aus lauter Liebeserklärungen durch die einstige Kollegenschaft, und der Zuschauerraum war gefüllt mit sehr vielen Leuten, denen der Anlass einen wehmütig genossenen Vergangenheitsmoment bescherte. Viele ergraut inzwischen, alles Grau aber überstrahlt vom Haarweiß des Geehrten, freilich: nur ein Kranz davon sichtbar. Auf dem Kopf nämlich: die Kippa. Fred Düren, der deutsche Schauspieler, hatte Ende der Achtziger die DDR verlassen, lebte seine jüdischen Wurzeln in Jerusalem (nicht als Rabbiner, wie immer wieder kolportiert wurde). Aber: nach komödiantischer Extravaganz nun Ernst und Gläubigkeit. Radikal, konsequent. Daher: ein großer Künstler ohne Alterswerk, aber das Alter doch ein gelingendes Werk aus Einkehr und Enthaltsamkeit.
Der junge Schauspieler Düren, Arbeiterkind vom Jahrgang 1928, lief einst im lila Kunstledermantel durch Ludwigslust, wo er nach Potsdam sein zweites Engagement ableistete. Bevor er dann ans Berliner Ensemble ging, von dort ans Deutsche Theater des Wolfgang Langhoff – denn nach Brechts Tod fragte er sich am BE, was denn nun noch Bedeutendes kommen könne. Düren, das war textgebundene Tanzkunst. Er war die Verkörperung elegantester Angespanntheit und eines fiebrig flatternden Raum-Ertastens. Im flackernden Licht seiner Kurvenbewegungen erhielt Schauspiel einen Hauch des Pantomimischen. Ein Anmutiger. Im fahrenden Volk war er der fahrigste Handwerker. Ein Flirren, ein Zittern – seine schmalen Hände: ein Lodern der Finger wie Feuerzungen aus Seidentuch. Spielmomente luden sich gern auf ins Exzentrische. Dazu diese spröde singende, etwas brüchig anmutende Stimme. Seine Sprache war eine wirbelnde wie würdige, reibungsfreudige wie respektvolle Feier zwischen Vokalen und Konsonanten.
In Hacks’ und Bessons Aristophanes-Version »Der Frieden« (fünfundvierzig Minuten Premierenapplaus!) gab er den Bauern Trygaios: mit Halbmaske und einem plebejischem Witz, der in dienerischer Pose auf seine freche Gelegenheit lauerte. Ein auf dem Mistkäfer fliegender Jahrzehnt-Volksheld auf Berlins Bühnen. Düren spielte auch den Tartüff, wieder in einer Inszenierung Bessons, sie befreite Molière aus deutsch-probater Possierlichkeit. Dann der »Oedipus Tyrann« von Sophokles und Hölderlin und Heiner Müller, ins rätseltief Archaische gehoben und hautnah berührend »trotz« der kunstvoll-mystischen Ledermaske von Horst Sagert. Düren war König Lear und der Herzog von Ferrara (in »Tasso«) bei Friedo Solter, er spielte den Shylock bei Thomas Langhoff.
Unvergesslich 1968 sein Faust in der Inszenierung von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz: ein geschnürter, eingezwängter Grübler in einer funktionärseifrig attackierten Aufführung – die sich einem faustdick gewünschten sozialistischen Realismus verweigerte. Wahrheit suchte dieser Gelehrte auf einzig geistvolle Weise: Sobald er glaubte, Herr einer Gewissheit zu sein, interessierte ihn nicht mehr das Argument, das sie bestätigte, sondern jenes, das sie widerlegte. Düren, nach starker Zeit im springteuflischen, lebensfarbensatten Besson-Hacks-Theaterzirkus, gab plötzlich einen düsteren, graumüden Intellektuellen, dem nichts mehr auf die Sprünge hilft, schon gar nicht, was sich Freiheit und Luxus der Optionen nennt. Es geht diesem Faust nicht mehr darum, die Probleme zu lösen, sondern sie auszuhalten – wahrlich auf Teufel komm raus! Den Dieter Franke als missmutigen Vorarbeiter der Hölle spielte. Düren beeindruckte durch einen erregenden darstellerischen Minimalismus – geradezu fühlbar, wie sich ein Mensch in der Unendlichkeit des Raumes doch eingesperrt fühlt. Dürens Spielintelligenz der aufklärerischen Absage – eine geistige Novität in der ostdeutschen Rezeption des Goethe-Klassikers – hatte etwas radikal Unmodisches. Die Skepsis, der ausgedürrte Geist, die resignative Versunkenheit – alles verwies ahnend auf eine bedenkliche Zukunft, die wir längst unsere Gegenwart nennen.
Ein Komödiant ist Gott in einem Reich der beglückenden Welt- und Lebensträume, die er vor der leidigen Verwirklichung ins Spiel rettet. Mehr und mehr aber hatte in Dürens Spiel, in den achtziger Jahren, eine konzentrierte Strenge obsiegt, ein Wirken ganz ohne Ausschwünge und Arabesken. Als schlüge da einer mählich einen meditativen, abschiedsbereiten Bannkreis um sich. Eines Tages trat der Komödiant dann ganz aus seiner Kunst heraus, ging aus der Scheinwerferhelle und sah in einer anderen Welt einen anderen Auftrag leuchten. Schauspielers Werk, fremde Häute zu Markte zu tragen, ist ja, wenn dies Werk beseelt getan wird, eine Art Nächstenliebe: Er nimmt sich erdichteter Schicksale an, damit uns Trost und Kraft gegeben ist. Bei Nächstenliebe blieb Düren, denn Gottesliebe ist deren Hochrechnung.
Manchmal sieht man ihn im Fernsehen – die Märchenfilme der DDR laufen ja noch, also auch »Der große und der kleine Klaus«; seinem KZ-Häftling in »Sie nannten ihn Amigo« wird man dagegen wohl kaum noch begegnen. Wenige Male noch war er in den letzten Jahren aus Jerusalem nach Berlin gekommen. Trat auf und besaß etwas Insistierendes. Er betonte, er sei aus dem »Totentanz der Zeit« ausgestiegen. War da im Spannungsfeld von religiöser Konzentration und unaufhaltsamer Entrücktheit nicht auch ein Hauch von Einflüsterungsehrgeiz zu spüren? Aber immer, wenn er wie ein Künder zu wirken begann, kicherte er. Als sei da ein Rest Verfremdungsfähigkeit einfach nicht zu tilgen. Das Kind im Greis. Mir unvergesslich zwei Gesprächsstunden, für ein nd-Interview. »Es ist ein Wunder und eine Verpflichtung, dass es überhaupt ein Israel gibt, die Juden müssen einen Staat haben ... Wenn ich einen Menschen töte, töte ich die Welt; das ist auch die Ansicht gläubiger Muslime – was man von den Fanatikern nicht sagen kann ... Der Erdball kocht, man tötet und tötet; der Weg aus den Feindschaften, das dauert seine Zeit, es wird noch viele Opfer kosten, leider ... Auschwitz? Niemand wird verloren gehen von denen, die da starben, alle sind aufgehoben – auf grauenvolle Weise ist dem Menschen klargemacht worden, welches der falsche Weg ist, wir sind gewarnt ... Ich bin nicht in den Glauben geflohen, er ist das volle Leben, weil er Hinwendung ist ... Ich glaube an Gemeinschaften, die ohne Ideologie das Richtige tun ...«
Wenn jemand der alten Freunde in Berlin Geburtstag hatte, klingelte das Telefon, und eine Mundharmonika war zu hören. Fred Düren. Wenn man Glück hatte und der Anrufer hatte Lust darauf, hörte man aus dem legendären »Frieden« von damals das berühmte Lied: »Der Krieg ist vorbei.« Und man sah diesen Fred Düren geradezu vor sich, wie die Gelenke, die Stimme, alle Empfindungen vielleicht weich und verletzbar geworden sind, aber er gleichzeitig immer wie neugeboren wirkte; eine Neugeburt durch schamlose Demut. Der Tod? Auch darüber sprach er im nd-Interview: »Ich möchte noch mit ihm reden können, wenn er da ist. Ob das möglich wäre? Eines Tages also wird er der Fall sein, und dann kann ich nichts weiter tun, als ihn begrüßen. Ich wünsche, dass es mir bei der Verwandlung gut gehen möge. Ich denke, dem Braven ist er gut. Man kann nichts tun, außer gern zu leben und eine Aufgabe zu haben. Ich habe beides.«
Nun ist Fred Düren – bereits am 2. März – im Alter von 86 Jahren in Israel gestorben.
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