Volle Grundsicherung wird gewährt
Bundessozialministerium hebt Sozialhilfe-Kürzungen für behinderte Menschen auf / Protest von Sozialverbänden zeigt Wirkung / Grundsätzliche Neuregelung bis 2016
Update: 13.30 Uhr: Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) beendet die Sozialhilfe-Kürzungen für erwachsene behinderte Menschen. Auch wenn sie nicht im eigenen Haushalt leben können, sollen sie genauso viel Geld erhalten wie Singles. Der Sprecher des Bundesarbeitsministeriums, Christian Westhoff, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Dienstag auf Anfrage, Arbeitsministerin Nahles werde eine entsprechende Weisung erteilen, die so schnell wie möglich umgesetzt werden solle. Zuständig sind dafür die Bundesländer.
Damit erhalten behinderte Menschen, die im Erwachsenenalter bei ihren Eltern wohnen bleiben, künftig jeden Monat rund 80 Euro mehr Sozialhilfe als bisher. Mit der Weisung setzt Nahles mehrere Urteile des Bundessozialgerichts aus dem vergangenen Jahr um. Die Richter in Kassel hatten argumentiert, die 20-Prozent-Kürzung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz und die UN-Behindertenkonvention.
Behinderte Erwachsene, die von den Eltern im gemeinsamen Haushalt versorgt werden, bekommen seit 2011 nur 80 Prozent der Grundsicherung von 399 Euro pro Monat. Für sie gilt die sogenannte Regelbedarfsstufe III, in der die Grundsicherung um 20 Prozent niedriger ist. Dem Magazin »Report Mainz« des Südwestrundfunks zufolge betrifft das schätzungsweise 40.000 Haushalte in Deutschland.
Behinderte Erwachsene, die von den Eltern im gemeinsamen Haushalt versorgt werden, bekommen seit 2011 nur 80 Prozent der Grundsicherung von 399 Euro pro Monat. Für sie gilt die sogenannte Regelbedarfsstufe III, in der die Grundsicherung um 20 Prozent niedriger ist. Dem Magazin »Report Mainz« des Südwestrundfunks zufolge betrifft das schätzungsweise 40.000 Haushalte in Deutschland.
»Report Mainz« berichtete über die schwierige finanzielle Lage der Familien und die bisherige Weigerung der Bundesregierung, die Urteile des Bundessozialgerichts umzusetzen. Die Familien sind doppelt benachteiligt, da die Eltern wegen der Behinderung ihrer erwachsenen Kinder häufig ihren Beruf nur eingeschränkt ausüben können.
Für Erwachsene in der Grundsicherung gilt normalerweise die Regelbedarfsstufe I mit 100 Prozent der Leistungen, für Ehe- und Lebenspartner die Stufe II, in der 90 Prozent der Grundsicherung gezahlt werden. 2011 waren die Regelbedarfsstufen neu gefasst worden. Seitdem gilt für volljährige Behinderte, die nicht im eigenen Haushalt leben, die 20-Prozent-Kürzung in der Regelbedarfsstufe III. Sie ist von Behindertenverbänden vielfach als Diskriminierung kritisiert worden.
Sozialministerin Nahles stellt nun eine gesetzliche Neuregelung für das Jahr 2016 in Aussicht, wenn auch die Hartz-IV-Sätze wieder neu bemessen werden. Bis sie in Kraft treten, also voraussichtlich bis Anfang 2017, soll nun eine Übergangsregelung gelten, wonach in der Bedarfsstufe III genauso hohe Leistungen bezahlt werden wie in Stufe I. Abgeschafft wird die Stufe III damit noch nicht - aber die Behinderten werden finanziell nicht länger benachteiligt.
Bund verweigerte jahrelang Anpassung an Gerichtsurteil
Update 9.00 Uhr: Mainz. Dem ARD-Politikmagazin »Report Mainz« liegt eine Antwort des von Andrea Nahles (SPD) geführten Bundessozialministerium (BMAS) vor, wonach sich das Ministerium weigert, erwachsenen Menschen mit Behinderung, die von Angehörigen betreut werden, die volle Grundsicherung zu zahlen - trotz mehrerer Urteile des Bundessozialgerichts vom Sommer 2014. In der Antwort heißt es, »dass das BMAS die Auffassung des Achten Senats (des Bundessozialgerichtes) nicht teilt«. Dies hat zur Folge, dass Betroffene derzeit Monat für Monat auf rund 80 Euro verzichten müssen. Für viele der schätzungsweise rund 40.000 betroffenen Familien ist das eine enorme Summe, da die betreuenden Angehörigen häufig ihre Berufe nur eingeschränkt ausüben können oder sogar aufgeben mussten.
Hintergrund ist eine vom Bundestag 2011 beschlossene Gesetzesänderung und die Neugestaltung sogenannter Regelbedarfsstufen im Hartz-IV-System und in der Grundsicherung. Diese hat zur Folge, dass Menschen mit Behinderung, die von Angehörigen, vorwiegend Eltern, betreut werden, nur 80 Prozent der Grundsicherung (voller Satz gegenwärtig 399 Euro) erhalten. Die Sozialrechtlerin Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt hält die seit vier Jahren gültige Kürzung für einen verfassungswidrigen Zustand. Gegenüber »Report Mainz« sagt sie: »Ich sehe in dieser gesetzlichen Regelung eine ganz klare Diskriminierung von volljährigen Behinderten, von denen immer angenommen wird, dass sie in keiner Weise zur Haushaltsführung beitragen können und die gesetzliche Regelung versetzt sie auch in genau diese Situation, dass sie das nicht können, weil sie haben das Geld ja nicht zur Verfügung.«
In diesem Sinn hat auch das Bundessozialgericht in Kassel im Sommer 2014 entschieden. Die bisherige Kürzung, so die Richter in drei Grundsatzurteilen verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz und gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Folglich stehe Erwachsenen mit Behinderung, die bei ihren Angehörigen leben, die volle Grundsicherung zu.
Das Bundessozialministerium, das die Kosten übernehmen und den Bundesländern entsprechende Anweisungen zur Auszahlung des vollen Existenzminimums erteilen müsste, weigert sich bisher jedoch, die Urteile umzusetzen. Begründet wird das unter anderem damit, dass die Kosten des Haushaltes überwiegend von den Eltern oder Angehörigen der erwachsenen Menschen mit Behinderung getragen würden. Hinter den Kulissen, so haben Recherchen von »Report Mainz« darüber hinaus ergeben, fährt das Ministerium eine noch härtere Linie: Bei einer internen Besprechung des Ministeriums mit den Ländern am 21. Januar 2015 im BMAS wurden die Bundesländer angewiesen, die Urteile nicht umzusetzen. Länder wie Hamburg, die dafür schon alles in die Wege geleitet hatten, haben daraufhin die Umsetzung auf Eis gelegt.
Vor diesem Hintergrund wird das Vorgehen des BMAS aus den eigenen Reihen der Koalition heftig kritisiert. Die ehemalige SPD-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, heute Vizepräsidentin des Bundestages und Bundesvorsitzende der »Lebenshilfe«, fordert eine schnelle Umsetzung des Urteils. Auch der ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU), sieht das BMAS und vor allem Andrea Nahles jetzt in der Pflicht: »Da muss eigentlich auch die Ministerin, Frau Nahles, eingreifen und sagen: ›So geht das nicht‹«.
»Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung sich bis heute weigert, das Urteil des Bundessozialgerichts umzusetzen«, kritisieren die behindertenpolitische Sprecherin Linksfraktion, Katrin Werner, und die sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Katja Kipping. Somit würden die Betroffenen, darunter auch Menschen mit Behinderungen, weiterhin um ihnen zustehende Leistungen betrogen. Beide kündigten an, parlamentarisch gegen die Verweigerung der Bundesregierung, das Urteil umzusetzen, vorzuegen.
Bundessozialministerin Andrea Nahles war zu keinem Interview mit »Report Mainz« bereit. Aus einem Rundschreiben an die obersten Landessozialbehörden vom 16. Februar 2015 geht hervor, dass das Bundessozialministerium Ende März abschließend entscheiden will, wie es mit den Urteilen des BSG umgeht. An diesem Mittwoch wird das Thema zudem auf der Tagesordnung des Sozialausschusses des Bundestages stehen. nd
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