Schlafwandeln und Aufwachen

Der Psychologe Klaus-Jürgen Bruder über die sozial-psychologische Mobilmachung im Zeichen der Ukraine-Krise

  • Lesedauer: 7 Min.

»Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen«, lässt Christa Wolf ihre Kassandra sagen, »aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein gegraben, überliefern. Was da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst Euch nicht von den Eigenen täuschen!« Werden wir gerade von den Eigenen, den eigenen Politikern und Medien getäuscht, zum Beispiel über die Ukraine, über die außenpolitischen und militärischen Ziele der Regierenden und anderes mehr?
Klaus-Jürgen Bruder: Wir werden getäuscht, aber wir lassen uns auch täuschen. Kritisches, differenziertes Denken bedeutet, psychische Arbeit gegen den Sog des Mainstreams auf sich zu nehmen. Es bedeutet, dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Großgruppe und der Sehnsucht nach Übereinstimmung mit den Mächtigen zu widerstehen. Dieser Wunsch führt bei vielen bis zur Verleugnung widersprüchlicher Wahrnehmungen. Die Medien sind nicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte in dieses Täuschungsmanöver eingebunden. »Invalide waren wir durch die Rotations-Maschinen, ehe es Opfer durch Kanonen gab!«, schrieb Karl Kraus bereits über den Ersten Weltkrieg. Was durch sie verkrüppelt wird, indem sie den Gegner zum Feindbild dämonisieren, ist die Fähigkeit zur Empathie und zum Perspektivwechsel, durch den man einen Konflikt wie jetzt in der Ukraine auch mit den Augen des Gegners betrachten könnte.

Stattdessen scheint es so, als werde die Öffentlichkeit von einer regelrechten Dämonisierung Russlands, vor allem seines Präsidenten Wladimir Putin bestimmt.
Die Ukraine-Krise ist von einem massiven Rückfall in Kalte-Kriegs-Rhetorik begleitet, in der alte Feindbilder vom bedrohlichen, unberechenbaren Russen Hochkonjunktur haben. Dabei wird die eigene Aggression in Form der Osterweiterung der NATO auf Russland projiziert, und Moskau werden einseitige Expansionsbestrebungen unterstellt. Dieses Feindbilddenken beruht auf De-Humanisierung und Dämonisierung des Anderen. Oft wird dabei der Feind in seinem Führer personifiziert. Das war auch bei Saddam Hussein so, bei Gaddafi und Assad, und geschieht nun mit Putin. So soll eine reflexhafte Bereitschaft zum Krieg erzeugt werden. Gleichzeitig erfolgt damit präventiv schon mal die Schuldzuweisung, falls dieser tatsächlich ausbrechen sollte.

In der Ukraine herrscht jetzt ein eingeschränkt stabiler Waffenstillstand. Kann die Weltuntergangsuhr, die am 22. Januar 2015 auf drei statt bisher fünf Minuten vor 12 vorgestellt wurde als eine Reaktion auf die Zuspitzung der Spannungen zwischen den Welt- und Atommächten USA und Russland durch den Ukraine-Konflikt jetzt wieder zurückgestellt werden?
Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, unmissverständlich gesagt hat, der Kampf zwischen Russland und dem Westen müsse vom militärischen Feld wieder zurück auf das ökonomische gebracht werden. Unabhängig davon wurde von den NATO-Verteidigungsministern im Februar in Brüssel aber die Schaffung einer neuen Eingreiftruppe aus etwa 5000 Soldaten beschlossen. Auch bleiben die Sanktionen gegen Russland bestehen. Und erst am Wochenende hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Gründung einer gemeinsamen europäischen Armee gefordert, um Europa besser vor Russland schützen und die Menschenrechte besser durchsetzen zu können. »Eine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen.«

Deutsche Politiker vermitteln gegenwärtig verglichen mit vielen Medien eher das Bild von sehr bedacht Handelnden. In Interviews wurden sie monatelang mit Fragen bestürmt, was die ganzen Verhandlungen und Sanktionen brächten angesichts des Vormarsches der Separatisten in der Ostukraine. Hinter jeder Frage stand die Ungeduld, wann die Politik nun endlich handeln werde, worin dies Handeln auch immer bestehen sollte.
Das ist Arbeitsteilung. So schufen Medien für die Politiker die Chance, den Friedensfreund zu mimen, der eine militärische Lösung völlig ausschließt und weiter auf Verhandlungen setzt. Die Medien hetzen, während die Politiker die Moderaten geben, weit entfernt von der Ungeduld der Presse, deren Rhythmus die Politik nicht folgen könne, wie Außenminister Steinmeier es ausdrückte. Selbst die angeblich seriösen Medien schüren den Krieg, indem sie gebetsmühlenartig den Gegner als Kriegstreiber darstellen. Wir wissen ja, wie geduldig eine Bevölkerung ist, wenn man sie allmählich an etwas gewöhnt, kennen das Wegsehen, Ohrenverschließen und Schweigen beispielsweise angesichts von Staatsterrorismus, Demokratiezerstörung, Menschenfeindlichkeit, sozialer Stigmatisierung und Exklusion. Irgendwann hält eine Mehrheit Hartz-IV-Empfänger für Sozialschmarotzer, fürchtet Flüchtlinge, weil sie in Deutschland angeblich das Sozialamt der Welt sehen oder unterstellt Russland, es wolle ganz Osteuropa heim ins russische Reich holen.

Zugleich scheinen die deutschen politischen und publizistischen Eliten mit lange ungekanntem Selbstbewusstsein auf die Weltbühne zurückzudrängen.
Eine besondere, weit über den Ukraine-Konflikt hinausgehende Gefahr sehe ich in der Tat auch in dem im vergangenen Jahr angestoßenen Diskurs über die Verpflichtung eines erstarkten Deutschlands, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Der positiv besetzte Begriff der Verantwortung wird bewusst irreführend verwendet, von Krieg und Einflusssphären absichtlich nicht gesprochen. Bundespräsident Gauck räumte lediglich ein, es sei manchmal auch erforderlich zu den Waffen zu greifen. Wann ist dieses »manchmal«? Im Kampf für Menschenrechte und gegen Diktatoren - natürlich nur in Ländern, die nicht zu den Verbündeten Deutschlands zählen? Im Kampf um Einflusssphären und Ressourcen zum Beispiel in Afrika, in Afghanistan, Irak, Syrien und ehemaligen Sowjetrepubliken?

Dafür existiert verschiedensten Umfragen zufolge in Deutschland derzeit aber keine Bereitschaft der Bevölkerung.
Genau deshalb tut die Regierung derzeit alles, um die nach wie vor kritische und ablehnende Haltung der Bevölkerung aufzuweichen. Gleichzeitig laufen die sogenannten friedlichen Interventionen weiter. Sie werden entweder reaktiv begründet, das heißt die Gegenseite wird als kriegstreibende dargestellt, oder sie werden unter Verwendung erschütternder Bilddokumente (echter oder gefälschter) humanitär begründet. Das ist wie eine Gehirnwäsche, ein Krieg um die Köpfe der Bürger.

Und das alles fand in einem Jahr statt, in dem an den Beginn des Ersten Weltkriegs erinnert wurde.
Man erzählt uns in Anlehnung an Christopher Clarks Buch »Die Schlafwandler« über den Ersten Weltkrieg, die Europäer einschließlich der Deutschen seien schlafwandlerisch in diesen Krieg getaumelt. Wir sollten diesen Titel vielleicht lieber für uns annehmen. Vielleicht können wir uns darin wie in einem Spiegel als Menschen erkennen, die von den Machenschaften der Regierenden und Herrschenden nichts mitbekommen, weil wir es ihnen nicht zutrauen oder es nicht wahrhaben wollen.

Sind die meisten Deutschen Ihres Erachtens in diesem Sinn wirklich Schlafwandler?
Sobald wir aufhören, Schlafwandler zu sein, setzen wir uns dem Vorwurf aus, Verschwörungstheorien anzuhängen - auch wenn diese sich Jahre später oft als wahr herausstellen -, werden lächerlich gemacht oder zum Schweigen gebracht. Widersetzen wir uns dem militärischen deutschen Eingreifen - egal ob in Libyen, in Mali, der Zentralafrikanischen Republik oder im Kampf gegen den Islamischen Staat - machen wir uns angeblich mitschuldig am Völkermord. Das ist die Urform der moralischen Erpressung, wie sie Ex-Außenminister Joschka Fischer unter Rot-Grün im Jugoslawienkrieg eingeführt hat und der mittlerweile auch einige Politiker der LINKEN erliegen.

Unter der Überschrift »Krieg um die Köpfe - der Diskurs der «Verantwortungsübernahme» standen solche Tendenzen einer sozial-psychischen Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Anfang März im Zentrum des Jahreskongresses der «Neuen Gesellschaft für Psychologie», deren Co-Vorsitzender Sie sind. Welche in engerem Sinn fachlichen und gesundheitspolitischen Signale gab es auf dieser Tagung?
Wir haben unseren Protest dagegen erneuert, dass die Behandlung von Bundeswehrsoldaten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach einem Auslandseinsatz unter der Regie der Bundeswehr - egal ob in einer privaten Praxis oder in medizinischen Einrichtungen der Bundeswehr - erfolgen soll. Als Psychologen und Psychotherapeuten sehen wir unsere Aufgabe definitiv nicht darin, diese Patienten so schnell wie möglich wieder fronttauglich zu machen. Wir glauben auch nicht, dass die für eine erfolgreiche Therapie erforderliche Offenheit im Gespräch unter der Regie der Bundeswehr möglich ist. Zudem haben wir vor dem Medienrummel um das Thema «Resilienz» in der Wirtschaft, im Militär, aber auch schon an Schulen gewarnt.

Was ist genauer unter «Resilienz zu verstehen»?
Das Resilienzkonzept neoliberalen Ursprungs hat sich auf eine perfide Weise den Widerstandsbegriff zu eigen gemacht; es zielt aber nicht auf die Stärkung der Widerstandskraft der Persönlichkeit. Statt etwa Arbeitsbedingungen humaner zu gestalten, sollen die darunter leidenden Menschen lernen, durch Techniken mit den Arbeitsbedingungen und privatem Stress klarzukommen. Es geht um Selbstoptimierung in einer versagenden Welt. Das ist eine Absage an gesellschaftliche Verantwortung zugunsten der Eigenverantwortung des Individuums.

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