Dorfrichter Nosferatu
An diesem Montag wird der Schauspieler Jörg Gudzuhn 70
Sein geblendeter Gloster, vor Jahren in Thomas Langhoffs »König Lear« am Deutschen Theater Berlin. Aus einem trotteligen, tattrig schlurfenden Greis, den Jörg Gudzuhn mit merkwürdigen Nuancen der Verkalkung und des Absonderlichen behängte, wurde mit genau gezirkelter Mählichkeit ein Charakter mit Fallhöhe, und der Fall erhob ihn, und es war das Leiden, das ihn zum Weisen machte. Was ja die furchtbarste Universität des Lebens bleibt.
Sein Fußballtrainer in Thomas Brussigs Monolog »Leben bis Männer«, in den Kammerspielen des DT, Regie: Peter Ensikat. Beichte einer DDR-Altlast, unterste Spielklasse, tiefste Provinz. Rackern für die Stamm-Elf, reden für den Stammtisch. Er referiert Fußballgeschichte als menschliche Anmaßung wider die Evolution; wir haben »zu wenig Fuß im Gehirn«, daher so viele verschossene Elfmeter bei so großen Toren. Gudzuhn offerierte großartig - nämlich aufplatzend unverschämt, verzweifelt bieder, triefend sentimental - den zerstörerischen Charme einer politisch-sportlichen Kollektivität, die Seelen militarisierte. Ein Mann ohne Bindungsfähigkeit, ein Psychologe der Knechtung. Aber ein Stehaufmännchen robusten Trotzes. Die Verbitterung und den soldatisch grundierten Eifer führte Gudzuhn in dieser Rolle stets auch liebevoll an der Grenze hilfloser Traurigkeit entlang.
Er war Tschechows Astrow und Trigorin, war der Cid und war Othello, und schwertkämpfend blutete er sich durch Hebbels »Nibelungen« - stets machte er den Eindruck eines Arbeiters, eines Menschen, dem man den Beruf auf der Bühne ansieht, nicht jedoch draußen, wo alle anderen Leute gern Theater spielen. Gudzuhn ging verlässlich still mit Erfolgen und Enttäuschungen um; er war am Deutschen Theater einer, der nie im Ortswechsel fieberte, und seine Kultur bestand in einem sehr ehrenwerten Grundsatz: Zur Erscheinung wird man einzig und allein in dem, was man tut, nicht in dem, wie man tut. Den Rollen Gudzuhns hat dieses Ethos etwas Irdisches bewahrt, ins Edle war ein Faden grober Stoff gewebt, und das heldisch Männliche behielt einen Gran Jungenhaftigkeit - mitten im Denkerischen kann dieser Schauspieler wunderbar verblüfft und begriffsstutzig sein.
Geboren wurde er 1945 im brandenburgischen Seilersdorf, er machte Abitur und eine Malerlehre, studierte an der Schauspielschule in Berlin, war in Karl-Marx-Stadt, Potsdam und am Maxim-Gorki-Theater engagiert, ehe er 1987 ans »Deutsche« kam. Ein Thomas-Langhoff-Schauspieler, ein Rolf-Winkelgrund-Darsteller (unvergesslich: »Der Eismann kommt«). Das heißt: Spielen, nicht nur zeigen; in allen Deutlichkeiten doch Unbegreifbarkeit bewahren; Erzähler bleiben, nicht Erklärer werden. Mit der Zeit, mit den Zeiten der Vertiefungen, ist Jörg Gudzuhn dabei immer auch komischer geworden. Kantiger. Vertrackter. Gegenteilslustiger. Im Ermatten aufsprühend, in der Lust schon alle Müdigkeit mitspielend, im gedankenwirbelnden Kopf immer auch schon ein bisschen die weise Ruhe; die großen Dichterworte segelten über die Bühne, aber in der stürmischen Tonart lauerte bereits der Schiffbruch. Das hat zum Beispiel, bei Langhoff, zu einer grandiosen Neufügung des Dorfrichters Adam in Kleists »Der zerbrochne Krug« geführt: nicht fett, sondern sehr hager besetzt; ein Nosferatu der Notwehr, ein Faust der Durchtriebenheit, ein Verzweiflungshüne - aber steckte in dessen abgrundschwarzer Schäbigkeit nicht ein tief Liebender, so bislang nicht gesehen?
Dieser Schauspieler, der auch ein kantiger Filmschauspieler ist und wesentlich zu dem beigetragen hat, was von der DEFA an Gesichtern und Geschichten bleibt (»Das Luftschiff« von Rainer Simon, »Eine sonderbare Liebe« von Lothar Warneke, »Fallada - letztes Kapitel« von Roland Gräf), wurde einer der Wenigen, die serielles Fernsehen erträglich machten. Er war der Kommissar in »Der letzte Zeuge«, Partner von Ulrich Mühes Gerichtsmediziner - Mühes Tod beendete diese ZDF-Serie. In mancher Folge war Gudzuhn das eigentliche Ereignis: wundervoll ironisches Weltverhalten, abgehärteter Witz, brabbelnder Fatalismus. Dieser unwirsche Kriminal-Kerl Joe, der Anflüge eines Philip Marlowe sämtlicher Ostprovinzen hatte - er trug, als sei sie ihm angewachsen, eine Aktentasche (so eine hatte Gudzuhn auch als spillriger, spitznasiger, waschlappig-böser Lehrer in Dürrenmatts »Der Besuch der alten Dame« am DT, der letzten Inszenierung mit Kurt Böwe, Titelrolle: Inge Keller). War wahrscheinlich oft leer, Joes dünnes Ledermäppchen. Eine Aktentasche für Stullen. Der König der Tatorte ein kleiner rühriger Beamter - ganz Gudzuhn und seine Kunstausübung. Man achte auf die Aktentaschen - irgendwo im Herzen trägt jeder Mensch so ein Ding. Begnadetes Schicksal: zur Arbeit gehen und just mit einer Aktentasche - spielen zu dürfen.
Es ist still um ihn geworden. Das lässt in besonderer Weise daran denken, wie er und Christian Grashof am DT »Sunny Boys« von Neill Simon spielten: zwei alte Komiker beim späten Versuch des Revivals. Pointenhopping. Aber immer wieder gab es Momente, da schienen beide inmitten des Zuwerfens all der Schmetterbälle aus Barschheiten und Bosheiten zu erstarren: in der Erkenntnis nämlich, die eigene Verwitterung zu präsentieren. Grashof als verkrampfter Elastiker, Gudzuhn mürb zerfurcht. Grashof, der Kleine, quirlig gernegroß; Gudzuhn, der Große, mit der infamen Verwundungskraft eines unschuldig dreinblickenden Pedanten. Gegenseitiges Belauern durch wechselseitiges Kalauern. Witz gegen Aber-Witz. Gleichgewicht der Kräfte: Jede Annäherungsgeste erfuhr die ihr entsprechende Ablehnungsbewegung.
Schließlich stellen beide Komiker fest, dass sie in unverbrüchlicher Feindschaft im selben Seniorenheim für Schauspieler landen werden. Die zwei entkommen der Komödie nicht, an die sie gefesselt sind, und als letztes Requisit wird stets die Maske gerettet, die wir für unser Gesicht halten. Grausam. Grotesk. Aber Gesetz. Das ist im Leben des Schauspielers der Anfangs-Impuls: die Lust auf Nachahmung. Aus Nachahmen wird dann Schöpfung. Da haben wir sie, die Mixtur aus Affe und Gott. Die Gaukler als Inbild des wahrhaft idealen Menschen. Einer der Bewundernswerten in der Gilde, Jörg Gudzuhn, wird an diesem Montag siebzig Jahre alt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.