Knobloch wirft Politik »Braun-Blindheit« vor
Kampf gegen Neonazis über Jahrzehnte nicht entschlossen und konsequent genug / Opposition verlangt mehr Schutz für Flüchtlinge / Nach Brandanschlag auf Flüchtlingsheim in Tröglitz demonstrieren einige Hundert gegen Flüchtlinge
Update 14.20 Uhr: Nach dem Brandanschlag auf das fast fertige Flüchtlingsheim in Tröglitz mahnt der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland , »Vorfälle wie dieser sollten die Alarmglocken in Europa angehen lassen. Die Demokratie wird zunehmend bedroht durch rassistischen, fremdenfeindlichen, politischen und religiösen Extremismus.« Diese Entwicklung sei quer durch den europäischen Kontinent zu beobachten. »Die zunehmende Atmosphäre von Hass und Intoleranz in verschiedenen Teilen der Gesellschaft ist sehr gefährlich. Wir müssen dies und die Ursachen dafür auf allen Ebenen bekämpfen«, so Jagland.
Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), hat die spontane Solidaritätskundgebung für Flüchtlinge am Samstagabend in Tröglitz gewürdigt. Die Tröglitzer hätten schnell deutlich gemacht, »dass sie ihren Ort nicht den menschenfeindlichen Fanatikern überlassen werden«, erklärte die Staatsministerin am Ostersonntag. Nach dem Anschlag versammelten sich am Samstagabend vor Ort nach Polizeiangaben rund 300 Menschen zu einer spontanen Demonstration gegen Rechtsextremismus. »Wir alle müssen den Tätern zeigen, dass sie mit ihrem Hass alleine stehen«, sagte Özoguz weiter. Sie äußerte Respekt für die Bereitschaft des ehemaligen Ortsbürgermeisters Markus Nierth, Flüchtlinge privat unterzubringen, nachdem die geplante Unterkunft durch das Feuer unbewohnbar geworden ist.
Mit Nachdruck werden derweil die Ermittlungen am Ostersonntag fortgesetzt, teilte die Staatsanwaltschaft Halle auf Anfrage mit. Nähere Angaben machte sie nicht. Die Spurensicherung am Brandort ist laut Polizei inzwischen abgeschlossen. Ob Rassismus das Motiv war, ist laut Polizei noch unklar. Die Ermittler halten einen politischen Hintergrund aber für naheliegend.
Update 14.10 Uhr: Die frühere Präsidentin des Zentralrates der Juden, Charlotte Knobloch, hat der deutschen Politik und Gesellschaft eine »verheerende, bisweilen systematisch scheinende Braun-Blindheit« vorgeworfen. Die Schlagzeilen am Oster- und Pessachwochenende machten sie fassungslos, sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens. Sie verwies dabei auf den mutmaßlich rassistisch motivierten Brandanschlag auf ein Flüchltingsheim im sachsen-anhaltischen Tröglitz. Es räche sich, »dass der Kampf gegen Rechtsextremismus vielerorts über Jahrzehnte nicht entschlossen und konsequent genug geführt wurde«, sagte Knobloch. Sie forderte eine Beschleunigung des NPD-Verbotes, ein entschlosseneres Vorgehen gegen rechte Untergrundorganisationen und gegen kameradschaftliche Gruppierungen. Gleichzeitig müsse das deutsche Bildungssystem 70 Jahre nach Kriegsende und dem Ende des Holocaust auf den Prüfstand. Ideologischer Hass »darf in unserem Gemeinwesen nicht Platz greifen«, sagte Knobloch: »Fünf vor zwölf ist lange vorbei.« Es reiche nicht mehr, »das Wehren der Anfänge zu beteuern«, es seien Taten gefragt.
Opposition verlangt mehr Schutz für Flüchtlinge
Berlin. Nach dem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Tröglitz in Sachsen-Anhalt haben einige hundert Menschen in dem Ort gegen Rassismus demonstriert. Aus der Politik kommen Mahnungen, mehr gegen Rassismus zu tun; die Opposition verlangte, mehr für den Schutz von Flüchtlingen zu tun.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderte Bund und Länder auf, die Sicherheit von Flüchtlingen zu verstärken. Es drängten sich Fragen auf: »War das Flüchtlingsheim ausreichend geschützt - zumal man wusste, dass in Tröglitz ein brauner Mob unterwegs war?« Die stellvertretende Bundestagspräsidentin Petra Pau (Linke) erklärte: »Bei so viel Unmenschlichkeit helfen nur noch ein Aufstand der Anständigen vor Ort und mehr Weitsicht der Zuständigen im Land.«
Auf einer spontanen Demo in Tröglitz sprachen am Samstag Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), der ehemalige Bürgermeister, der Landrat und Engagierte aus Vereinen und Kirchen. Die Bürgerinitiative »Miteinander - füreinander« um die unermüdliche Familie Nierth hatte dazu aufgerufen. 300 Menschen aus Tröglitz und Umgebung kamen. »Tröglitz ist so ein schöner Ort und unsere Heimat, die lassen wir uns von Verbrechern nicht kaputt machen«, sagte Haseloff bei der Kundgebung unter lautem Applaus. Die Bewohnerin Ilona Franke sagte, sie wünsche sich, dass die Tröglitzer Lust hätten, die Asylbewerber zu integrieren und sich zu engagieren. »Ich erhoffe mir eine weitere gute Zukunft. Wir müssen zusammenhalten und kräftig sein.«
Brandanschlag auf Flüchtlingsheim in Tröglitz
Hunderte beteiligen sich an Demonstration gegen Rassismus / Ex-Bürgermeister bietet Privatwohnung für Flüchtlinge an / Großer Schaden, keine Verletzten - Polizei ermittelt / Flüchtlinge sollten Anfang Mai einziehen - Was am Samstag geschah
Die Spitzen der Linken in Sachsen-Anhalt, Birke Bull und Wulf Gallert, die ebenfalls an der Demonstration teilnahmen, sprachen von einem »symbolischen Angriff auf das Leben von Flüchtlingen« durch »kriminelle Rassisten«. Der Tod von Bewohnern dieses Gebäudes sei billigend in Kauf genommen worden. An der Tat werde auch »die Absurdität der Argumentation von Rechtsextremen und Rechtspopulisten in Tröglitz und anderswo deutlich. Als vermeintlich besorgte Bürger schürt man Hass und Angst vor Flüchtlingen und bedient sich dabei selbst krimineller Handlungen.« Bull und Gallert erklärten, es sei »höchste Zeit, dass Tröglitz sich selbst dagegen wehrt. Heute mit einem Zeichen für Menschlichkeit und in den nächsten Monaten mit der Bereitschaft Menschen aufzunehmen und Solidarität zu üben«.
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) forderte eine strikte Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. »Wir dürfen beim Kampf gegen Rechtsradikalismus nicht nachlassen«, sagte Schwesig der »Bild am Sonntag«. Die Ministerin, die die Präventionsprogramme gegen Rechtsradikalismus verantwortet, zeigte sich auch persönlich betroffen: »Das war ein feiger und furchtbarer Brandanschlag, der wütend, traurig und fassungslos macht.«
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) verlangte eine rasche Aufklärung. Er sagte am Samstag der Deutschen Presse-Agentur, wenn der Brand tatsächlich vorsätzlich gelegt worden sei, »ist das eine abscheuliche Tat, die unverzüglich aufgeklärt werden muss. Die Täter gehören hinter Schloss und Riegel.«
SPD-Chef Sigmar Gabriel erklärte: »Es ist die monatelange Stimmungsmache gegen Flüchtlinge, die den Hass säte, der in Tröglitz nun in Flammen gemündet ist.« Der Vize-Kanzler unterstrich, Flüchtlinge gehörten zu Deutschland. Die Bundesrepublik sei ein wohlhabendes Land. Wer Schutz vor Verfolgung suche, habe Anspruch auf Hilfe. »Fremdenhass hat keinen Platz in Deutschland, das ist die Meinung der übergroßen Mehrheit in Deutschland«, betonte Gabriel.
Justizminister Heiko Maas (SPD) rief die Bürger auf, Position zu beziehen gegen Rechtsextremismus. »Wenn Flüchtlingsheime brennen, ist das beschämend«, sagte Maas der »Welt am Sonntag«. »Wo immer Rechtsextreme Stimmung machen gegen Ausländer, müssen wir gemeinsam dagegen halten.« Die große Mehrheit in Deutschland sei tolerant und weltoffen. Sie verurteile jede rassistische Hetze. I
Die geplante Unterkunft ist laut Polizei zwar unbewohnbar. Doch Landrat Ulrich will mit anderen Vermietern sprechen und neue Häuser finden. Und Ministerpräsident Haseloff kündigte an: »Wir werden keinen Schritt zurückweichen. Hier geht es nicht nur um Verbrechensbekämpfung, hier geht es um unsere Demokratie.« Agenturen/nd
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!