Im Fieber der Perfektion
Votings, Objektivierungswahn und der Like-Fetisch: Eine Introspektion in die Bewertungsgesellschaft
Eigentlich kann nichts mehr schief gehen. Wir kennen die saubersten Hotels, die besten Restaurants, die besten Airlines und Handcremes. Denn alles, was uns umtreibt und bewegt, ist hundertfach geprüft und evaluiert. Wer sich durch das Netz klickt, trifft auf Bestenlisten, von Blumenläden über Orthopäden bis hin zu »Finanzprodukten«. Die neue Transparenz schützt uns vor Fettnäpfchen aller Art und weist uns den Weg zur optimalen Wahl. Bei Erhebungen unangenehm aufzufallen, macht sich sofort bemerkbar. Schwarze Schafe haben es in der Masse all der Durchschnittlichen heute schwerer denn je. Denn das System der Bewertungsgesellschaft entpuppt sich als eines größtmöglicher Risikovermeidung. Dass wir in schäbigen Eckkneipen mit abgeranzter Küche landen, schlechte Kinofilme schauen oder im Urlaub zwielichtigen Autovermietern auf den Leim gehen, wird immer unwahrscheinlicher. Die eigene knappe Zeit in einer ohnehin beschleunigten Epoche falsch einzusetzen, gilt es in jedem Fall zu verhindern. Nur wo Perfektion verfügbar erscheint, vermag der spätmoderne Mensch allen unnötigen Hindernissen und Ärgernissen aus dem Weg zu gehen.
Doch macht uns eine solch durchevaluierte Gesellschaft der Fragebögen und ständigen Auswertung unserer Daten wirklich reicher, genussvoller, empfänglicher? Müssten wir unser Leben angesichts der Destillationen des Bestmöglichen in allen Bereichen nicht als viel vollkommener empfinden? Das ehrliche Zugeständnis weiß um die Fatalität des Optimums: Kein Dasein ist ärmer als jenes, das nur auf vermeintlicher Fehlerlosigkeit gebaut ist. Es mag wie eine Glückskeksweisheit klingen und doch ist die Botschaft ehrlich gemeint: Nur weil der Gaumen Geschmacksabgründe bereits erlebt hat, hat er gelernt, die kulinarische Auslese zu schätzen. Doch derartige Umwege sind heute nicht mehr gewollt. Die Leistungsgesellschaft trimmt auf unmittelbare, schrankenlose Kommunikation, heiligt strikte Karrierelinien und erhebt das Sublimat zum Maß aller Dinge.
Aber wie zutreffend sind die höchsten Gütesiegel, die in sämtlichen Bereichen unserer Existenz nach unzähligen Bewertungsrunden verliehen werden, wirklich? Und Wie perfekt ist eigentlich die Perfektion? Das Alpha und Omega der kollektiven Kür der Besten bilden Umfragen. Sie ermitteln, was uns guttut, loten den Volonté générale aus und küren Pornosternchen und Ex-»Bachelor«-Kandidatin Melanie Müller zur »Königin« des »Dschungelcamp« 2014. Jenseits der medialen Amüsements geht der Statistik- und Abstimmungsfetisch unserer Tage aber bei politischen Entscheidungen mit bedenklichen Implikationen einher. Statt auf Werten gründet Angela Merkels Pragmatismus auf kurzfristigen Meinungsbildern. Etwaige Positionen der Abgeordneten verwaschen sich in Moden und Trends. Dabei steht unzweifelhaft fest, dass all die Barometer, welche uns in einer komplizierten Welt simple Antworten suggerieren, nicht mehr als Halbgares bieten. Ob im Fernsehen oder im Bundestag - dem minimalen Konsens kommt das Primat zu. Er hinterlässt eine mediokre Farblosigkeit, die auf niemanden zu grell wirkt.
Das statistisch erhobene Mittelmaß ist ungefährlich und bequem. Was wir von ihm erhoffen, ist eine Objektivität in Zeiten, wo im Grunde genommen jedwede Sicherheit verloren gegangen ist. All die geadelten Pop-Eintagsfliegen und »Galileo«-Infotainment-Sendungen über aus Umfragen gewonnene Ergebnisse zur besten Partnerschaftspraxis oder klügsten Kindererziehung suggerieren uns feste Wissenssubstanz und kristallisieren das vermeintlich Beste heraus. Doch Letzteres ist nicht mehr als eine biedere Norm. Votings küren nicht, sie verflachen und desensibilisieren. Statt das Besondere zutage zu fördern, verhindern sie Innovation und Kreation. Gerade unpopuläre und bisweilen provokative Haltungen widersprechen dem Gros der Masse und bringen die Bedrohung mit sich, das Gleichgewicht zu stören.
Und das Schlimmste daran: Kaum einer merkt den Betrug. Denn mehr als gegenwärtig wurde nie gewählt. Die neuen Medien sorgen dafür, dass jeder überall partizipieren kann. Per SMS und Netz-Votings bestimmen wir, welche Visage hübsch und welches Wissen nützlich ist. Dabei spielt es keine Rolle, welchen Kenntnishintergrund die Befragten mit sich bringen. Wer Teenies in den Olymp der Musikindustrie wählt, der kann auch Gastro-Guide und Außenpolitik. Demokratie hat die Reifung zugunsten eines umfassenden Dauerabstimmungsrituals aufgeopfert. Schnelligkeit substituiert Konzentration. In der Sat.1-Talkshow »Eins gegen Eins«, in der zwei Politiker gegeneinander antreten, lässt man das Publikum sogar mehrfach innerhalb einer Sendung seine Überzeugungen kundgeben. Ohne in der knappen Redezeit auf die Kraft von Argumenten setzen zu können, müssen die Rhetoriker auf Unterhaltung und scharfzüngige Parolen ausweichen. Entscheidend sind weniger Stichhaltigkeit als Sticheleien, weniger Diskurs als Zahlenwerte.
So verliert die Debatte, die nunmehr allein in kleinen, verträglichen Häppchen konsumierbar wird, an Substanz. Zwar werben die Meinungsforschungsinstitute stets damit, durch ihre Erhebungen dem gesellschaftlichen Innenleben auf die Spur zu kommen, ja, Soziologie auf eine sichere Basis zu stellen. Kritisch muss man jedoch die Frage stellen, ob die Bewertungsgesellschaft am Ende wirklich auch ein Surplus an Wissen erzeugt. In Wirklichkeit löst sie Zusammenhänge auf. Die Welt der Statistik ist ein Kosmos der Aufspaltung und Zerkleinerung. Während die Ganzheitlichkeit aus dem Blick verschwindet, nimmt die Bedeutung von einzelnen Datensätzen zu. Es entstehen Halbwissen und Informationsgebirge, ohne dass daraus tiefere Einsichten über den eigentlichen Gegenstand zu generieren wären.
Gleichzeitig leuchtet die Demoskopie nach und nach alle Ecken des menschlichen Daseins aus. Ob ästhetische Empfindungen im Anblick eines Gemäldes oder beim Lauschen von Musik - der Evaluationssog nährt sich aus Intimitätsfeindlichkeit und schrankenloser Sichtbarkeit. Das Cyberkollektiv ergeht sich in Likes, fühlt sich stark als vermeintlich unabhängiger Meinungsapparat und erweist sich doch als Geißel der Netzmonopolisten. Mit seinen flexiblen Votings trägt es weder zu mehr demokratischem Geist noch zu irgendeiner Veränderung der gesellschaftlichen Realität bei. Seine Äußerungen geraten vielmehr direkt in die Tentakel der Big Data-Kraken, deren einziges Bemühen allein einem ökonomischen Kalkül verpflichtet ist.
Aber auch die Nutzer selbst riskieren mit ihrer unbedarften Mentalität als Hans-Dampf-in-allen-Gassen-Wähler eine Abstumpfung in Sachen Meinungsbildung. Zwischen »Gefällt-mir«-Exzessen zu den »schrägsten Tiervideos« auf Youtube und mal jux organisierten Abstimmungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr haben wir offensichtlich die Sensibilität für das Wesentliche verloren. Wir ermüden zusehends an immer neuen Ergebnissen über unsere angeblichen Ansichten, ermüden daran, dass die Befragungswut nur selten noch Neues hervorbringt, und an der Nichtigkeit des Statistik-Zirkus’. Klar, die Politik reagiert in ihrer Anpassungsfähigkeit inzwischen recht kurzlebig auf fixe Befragungen zu Einstellungen und Wünschen. Doch langfristige Konzeptionen bleiben aus. Darunter leiden dann zumeist die durchaus wichtigen Projekte: Petitionen im Tierschutzbereich oder Bürgerbegehren zu TTIP. Nachdem unser aller Spam-Ordner von Umfrageeinladungen nur so überquellen, beziehen viele eine Blockadehaltung, üben sich zurecht im Netzasketismus, verpassen aber die Chance, wenn es denn einmal um wirkliche Mitspracherechte geht, sich mit ihrem Elan und ihren Kenntnissen einzubringen. Auch Expertisen haben es immer schwerer: Da sich inzwischen jeder Hanswurst im Netz zum Filmkritiker und politischem Weltstrategen berufen sieht, geraten in den letzten Jahren Spezialisten ins Hintertreffen. Gerade das Feuilleton leidet unter Legitimationsdruck, weil der ehrenvollen Aufgabe belesener Rezensenten durch einschlägige offene Plattformen im Internet kaum mehr die nötige Achtung zukommt. Professionalität und Tiefe sind gefährdete Güter geworden.
Die Bewertungsgesellschaft verkürzt unser Denken auf allen Ebenen und versetzt uns zurück in frühinfantile Affirmationsbekundungen. Bauch und Laune mangelt es an kontemplativem Nachdenken, das eine immer komplexer werdende Welt eigentlich einfordert. Dabei könnte der Weg aus dem Baby-Dada- und Gefällt-mir-Rondell am Ende auch leichter als gedacht sein. Wer der Norm der Assimilation und dem steten Schauen auf sich täglich ändernde Windverhältnisse überdrüssig geworden ist, dem sei empfohlen, doch schlichtweg wieder dem eigenen Befinden Gehör zu schenken, einem Befinden der Reflexion, frei von Geplapper, einem Befinden, das so mutig ist, dass es zur Selbstvergewisserung keinen ständigen Abgleich mit dem Strom der Masse bedarf. Dies wäre wirkliche Reife und mag zugegebenermaßen für den eingefleischten Homo Cyber derzeit noch ein beschwerlicher Pfad sein. Doch der Gedanke lohnt: Enthaltung versteht sich nicht als Entmachtung, sondern birgt das Gegenteil in sich. Erst aus der Zurücknahme entstehen Konsistenz und Überzeugungen.
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