Verrammelte Scheiben, falscher Alarm
Für das G7-Ministertreffen war Lübeck im Ausnahmezustand. Bis zum Abend blieb der Protest friedlich
Vielleicht blickt die Welt tatsächlich für einen Augenblick auf Lübeck in diesen Tagen. Doch zahlt die Stadt für die Ausrichtung des G7-Außenministertreffens einen Preis, nämlich die drastische Einschränkung der gewohnten Bewegungsfreiheit. Die elitäre Politrunde hat am Dienstagabend ihre Gespräche aufgenommen, Proteste begleiten die zweitägige Zusammenkunft. Ein riesiges Polizeiaufgebot hat große Teile der Lübecker Innenstadt abgeriegelt. Herbeigeredete Krawalle fanden bis Redaktionsschluss nicht statt; die Zahl der Gipfelgegner blieb mit rund 1500 unter den Vorhersagen.
Das Stadtbild aber hat sich für einige Tage radikal gewandelt. Noch nie wurden an der Trave so viele schwarze Limousinen mit abgedunkelten Fenstern gesehen. Und auch noch nie ein derartiges Polizeiaufgebot: 3500 Mann, weitere stehen auf Abruf, heißt es. Sie sichern das Hansemuseum als Tagungsstätte und etliche andere Orte; die City ist im Belagerungszustand: etliche Kilometer »Hamburger Gitter«, drei Sicherheitszonen mit Begehungs-, Fahr- und Halteverboten, ein zum Teil ausfallender Busverkehr sowie Anwohner, die von Polizeikräften peinlichst kontrolliert und bis vor die Haustür begleitet werden.
Und die Beamten sind nervös. Als Mitglieder der Lübecker Linkspartei kleine Protestfähnchen in eine öffentliche Rasenfläche stecken, müssen sie gleich ihre Personalien hinterlassen. Eine an einer Baustellenabsperrung baumelnde Fahrradtasche und im Stadtbild abgestellte Koffer mobilisieren den Kampfmittelräumdienst. Doch am Ende gibt es jeweils Entwarnung. Auch die »Nachttanzdemo« mit rund 500 Teilnehmern am Montagabend war laut, bunt und - aber ungefährlich.
Viele Geschäftsleute sind dennoch eingeschüchtert. Aus Angst vor Straßenschlachten haben sie ihre Läden geschlossen, viele Schaufenster sind mit Spanplatten verrammelt. Karstadt hat sogar eigene Sicherheitsleute vor die Tür gestellt. Ein Apotheker nimmt es dagegen mit Humor: Er bietet »Anti-Aggressions-Öl« an und verlangt horrende 11.90 Euro für 10 ml - ein Elixier aus Zitrus, Lavendel und Vanille.
Besondere Vorkommnisse sind bisher Fehlanzeige. Die japanische Delegation knipste sich am Mittag auf einer Sightseeingtour vor dem berühmten Holstentor; 120 Lübecker Schüler debattierten auf Einladung des Auswärtigen Amts brav mit den deutschen und französischen Außenministern sowie der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. Frank-Walter Steinmeier, Mogherini und Japans Außenminister Fumio Kishida trugen sich nachmittags im Günter-Grass-Haus ins Kondolenzbuch für den verstorbenen Literatur-Nobelpreisträger ein.
Wie es weiter gehen würde, war zu Redaktionsschluss noch unklar. Die Gipfelgegner waren am späten Nachmittag auf dem Weg zum Demonstrationstreffpunkt einem Kontrollmarathon ausgeliefert. Auf einem Abschnitt von 50 Metern sei man gleich drei Leibesvisitationen unterzogen worden, erklärt einer gegenüber »nd«. Schleswig-Holsteins LINKE-Geschäftsführer Marco Höne klagt: »An jeder Straßenecke stehen uniformierte Grüppchen.«
»Lasst Euch nicht provozieren«, riet die Demoleitung. Der abendliche Protestzug konnte nur mit erheblicher Verspätung starten.
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