»Die tödlichste Grenze auf der Welt«

Überlebende berichten von Hunderten Opfern nach Bootsuntergang vor der libyschen Küste / Hilfsorganisation: Viele Kinder und Jugendliche unter den Toten

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Update 15.05 Uhr: Angesichts des neuen tödlichen Flüchtlingsdramas im Mittelmeer hat die Bundesregierung auf Schwierigkeiten bei der Hilfe verwiesen. Jede Anstrengung, die Situation zu verbessern, lohne sich, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am Mittwoch in Berlin. »Aber es ist ein Thema, das komplex ist.« Rein nationale Lösungen könne es nicht geben. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, jeder tote Flüchtling sei einer zuviel. Grenzpolizeiliche Maßnahme könnten die Probleme nicht beheben. Die Länder, aus denen die Flüchtlinge aufbrechen, müssten die Schlepper-Kriminalität besser bekämpfen. Den afrikanischen Heimatländern müsse geholfen werden, damit die Menschen eine Perspektive zum Bleiben haben.

Grünen-Chefin Simone Peter warf der Regierung vor, sich wegzuducken. »Die Europäische Union muss nun zügig handeln, weg von einer Politik der Abschottung hin zu mehr sicheren Zugangswegen für Schutzsuchende nach Europa.« Die Linke-Innenexpertin Ulla Jelpke sagte: »Die Scharfmacher unter den europäischen Innenministern, wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière, sahen die Seenotrettung ohnehin nicht als humanitäre Pflicht der EU, sondern als Bedrohung für die Sicherheit der Außengrenzen.« Das Bündnis »Gemeinsam für Afrika« forderte gemeinsame europäische Mission zur Seenotrettung.

Chronologie

Rom. Seit Jahren kommen im Mittelmeer immer wieder Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa um. Beispiele:

Februar 2015: Vor der italienischen Insel Lampedusa kommen möglicherweise mehr als 330 Flüchtlinge ums Leben. Mindestens 29 von ihnen sterben während der Überfahrt von Libyen nach Italien in kaum seetüchtigen Schlauchbooten an Unterkühlung.

September 2014: Nur zehn Menschen werden gerettet, als ein Boot mit angeblich mehr als 500 Migranten im Mittelmeer untergeht. Überlebende berichten, dass Menschenschmuggler das Schiff mit Syrern, Ägyptern, Palästinensern und Sudanesen auf dem Weg nach Malta versenkt hätten.

Juli 2014: Bei einer Flüchtlingstragödie vor Libyens Küste ertrinken mindestens 150 Menschen. Die libysche Küstenwache findet Leichen und Wrackteile eines Schiffes vor der Stadt Khums.

Oktober 2013: Mindestens 366 Flüchtlinge ertrinken bei Lampedusa. Ihr Boot fängt Feuer und kentert. Die Küstenwache kann 155 Menschen in Sicherheit bringen. Sie stammen überwiegend aus Somalia und Eritrea.

Juni 2012: 54 Flüchtlinge sterben, als sie bei starken Winden in einem Schlauchboot von Libyen aus Italien erreichen wollen. Ohne Vorräte trinken sie Meerwasser. Ein Mann aus Eritrea überlebt.

August 2011: Ein Boot erreicht mit 270 überlebenden Afrikanern Lampedusa. Unter Deck liegen die Leichen von 25 Männern, die vermutlich an Abgasen erstickt sind. 100 Tote seien zudem über Bord geworfen worden, sagt ein Überlebender.

Juni 2011: Vor der Küste Tunesiens gerät ein Boot mit Flüchtlingen aus Afrika und Asien auf dem Weg nach Italien in Seenot. Nur wenige können gerettet werden; bis zu 270 Menschen bleiben verschollen. dpa/nd

Update 13.20 Uhr: Im Deutschlandfunk fordert Ska Keller, flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament, ein europäisches Seenotrettungsprogramm und kritisiert die Übernahme Frontex nach dem das Hilfsprogramm »Mare Nostrum« abgelaufen war. »Frontex ist eine Grenzschutzmission, keine Rettungsmission. Ich denke, was damals passieren hätte müssen und was jetzt passieren sollte ist, dass alle europäischen Staaten zusammen sagen, wir müssen da was machen, dass Italien das nicht selbst bezahlt und dafür aufkommt, sondern dass es eine gemeinsame, europäisch koordinierte Seenotrettungsaktion gibt, die auch langfristig angelegt ist«, sagte sie gegenüber dem Deutschland Funk.

Update 12.40 Uhr: »Wir können nicht länger zusehen, wie Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken«, kommentiert die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, die jüngste Katastrophe im Mittelmeer.

»Die Operation zur Seenotrettung, die im vergangen Jahr unter dem Namen Mare Nostrum von Italien geführt wurde, hat die EU auslaufen lassen. Sie war ihr schlicht zu teuer«, kommentierte sie die Haltung der europäischen Politik zu Einwanderungsfragen.

»Wenn die EU weiterhin auf reine Abschreckungsmaßnahmen setzt, muss sie sich den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung gefallen lassen. Bei den Tragödien im Mittelmeer handelt es sich nicht nur um Katastrophen – es handelt sich um Verbrechen, begangen an Menschen in Not. Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten müssen sich schleunigst auf ein neues Programm zur Seenotrettung einigen«, so Ulla Jelpke weiter

Update 12.30 Uhr: Die Nachtrichten Agentur berichtet davon, das Schätzungen zufolge in Libyen noch bis zu einer Million Menschen vor allem aus dem südlichen Afrika auf eine Überfahrt warten.

Update 12.20 Uhr: Die rassistische Partei Lega Nord nutzt das Ereignis für unmenschliche Hetze in Italien. Der Parteichef der rechtspopulistischen Lega Nord, Matteo Salvini, forderte seine Anhänger auf, Immobilien zu besetzen, die die Regierung in den kommenden Wochen zur Unterbringung der anwachsenden Zahl von Flüchtlingen nutzen will. Die rechtspopulistische Partei will die Flüchtlingspolitik zum zentralen Thema während den Regionalwahlen machen.

Schreckliches Unglück im Mittelmeer

Berlin. Im Mittelmeer hat sich offenbar erneut ein schreckliches Unglück bei der Flucht von Menschen nach Europa ereignet. Bei einem Schiffsuntergang vor der libyschen Küste sind nach Angaben einer Hilfsorganisation vermutlich 400 Menschen ertrunken. Dies gehe aus Schilderungen von Überlebenden hervor, die in der süditalienischen Stadt Reggio Calabria angekommen seien, teilte die Organisation Save the Children am Dienstag mit. »Nach ihren Aussagen sind bei dem Schiffsunglück am Sonntag etwa 400 Menschen ertrunken, 24 Stunden, nachdem das Schiff an der libyschen Küste aufgebrochen war«, hieß es in einer Erklärung von Save the Children. Unter den Opfern seien viele Kinder und Jugendliche.

Die Überlebenden der Tragödie waren am Dienstag in Italien an Land gebracht worden und wurden von Mitarbeitern der Internationalen Organisation für Migration (IOM) befragt. Die italienische Küstenwache hatte bekanntgegeben, 144 Menschen gerettet und neun Leichen geborgen zu haben. Eine große Rettungsaktion wurde eingeleitet. Weitere Überlebende seien aber nicht gefunden worden, meldete die Nachrichtenagentur Ansa unter Berufung auf die Küstenwache.

Etwa 150 Flüchtlinge trafen am Dienstag in Reggio Calabria im äußerten Süden Italiens ein. Auch die IOM berichtete von Zeugenaussagen, wonach sich bis zu 550 Menschen auf dem Boot befanden, als es umkippte. »Wir ermitteln noch, wie es zu dem Untergang kommen konnte«, sagte der IOM-Sprecher für Italien, Flavio Di Giacomo. Das Schiff sei womöglich gekentert, als sich die Passagiere gleichzeitig auf eine Seite bewegten, als sie die nahende Küstenwache bemerkten.

Es wäre eine der schlimmsten Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer, seit im Oktober 2013 mehr als 360 Menschen vor der italienischen Insel Lampedusa umgekommen waren. Das Unglück hatte eine große Diskussion um die Flüchtlingspolitik Europas ausgelöst. Derzeit versuchen Tausende Migranten vor allem aus Ländern Afrikas südlich der Sahara und aus Syrien die tödlichen EU-Außengrenzen auf der Flucht vor Krieg, Armut und Hunger zu überwinden. Viele Boote starten in Libyen, das vom Bürgerkrieg zerrissen ist. Seit Freitag rettete die Küstenwache etwa 8.500 Menschen. Viele Auffanglager in Italien sind vollkommen überfüllt. Auf Lampedusa sollen 1.400 Menschen in einem Lager sein, das für etwa 250 ausgelegt ist.

»In der Nähe von Tripoli lebten wir für vier Monate in einer Sardinenfabrik, wir waren mehr als tausend Leute«, erzählte eine Gerettete der Agentur Ansa von ihren Erlebnissen vor der Abfahrt. »Wir haben nur einmal am Tag gegessen und konnten nichts machen. Wenn man mit einem Freund oder Nachbarn gesprochen hat, wurde man geschlagen.«

Das italienische Rettungsprogramm für Flüchtlinge »Mare Nostrum« war vergangenes Jahr ausgelaufen. Es wurde durch die EU-Grenzschutzmission »Triton« abgelöst. Menschenrechtler und Hilfsorganisationen sehen darin aber mehr eine Abschreckungsmaßnahme als ein Rettungsprogramm für Menschen in Not. Rom pocht seit langem auf mehr Hilfe aus Europa, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen.

Angesichts der vielen Dramen forderte der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD), mehr Anstrengungen der Bundesregierung für den Schutz der Migranten. »Deutschland sollte beim Flüchtlingsschutz auf europäischer Ebene eine Vorreiterrolle einnehmen und auf die Schaffung eines reinen Seenotrettungsprogramms hinarbeiten,« sagte er am Dienstag der »Hannoverschen Allgemeinen Zeitung«. Agenturen/nd

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