Angst ist ein schlechter Ratgeber
nd-Interview: Berufsverband der Psychologen hält nichts von Berufsverboten für Depressive
Kann man mit Verboten Ihrer Meinung nach Katastrophen verhindern?
Nein. Diese Reaktion ist meines Erachtens kurzschlüssig. Es wird kaum möglich sein, zu Beginn einer Berufstätigkeit so valide, so aussagekräftig zu diagnostizieren, dass man solche Katastrophen, die in späterer Zeit durch eine später auftretende Krankheit zustande kommen können, verhindern kann.
Welchen Umfang haben Depressionen und suizidales Verhalten in der Gesellschaft?
Das Lebensrisiko, an einer Depression zu erkranken, ist vergleichsweise hoch. Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass im Jahresverlauf bis zu zehn Prozent der Bevölkerung an einer Depression unterschiedlichen Schweregrads erkranken. Folglich ist davon auszugehen, dass fast jeder in seiner engeren Umgebung auch depressiv Erkrankte hat. Die Erkrankung ist nicht außergewöhnlich. Das Krankheitsspektrum ist allerdings sehr breit. Man sollte bitte nicht folgern, dass mit jeder Depression eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Ausübung eines Suizides verbunden ist, oder dass sich die der Krankheit innewohnende Aggression nicht nur gegen die eigene Person richtet, sondern noch andere Menschen in Mitleidenschaft zieht.
Einige Experten meinen, erweiterter Suizid käme häufig vor, andere sagen, er sei selten. Was ist richtig?
Zahlen liegen mir nicht vor, aber ich kann mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass erweiterter Suizid nicht häufig ist. Das nimmt dem Flugzeugabsturz mit so vielen Toten nichts von seiner Tragik, aber im Vergleich zu anderen Unfällen ist die Wahrscheinlichkeit, dass er geschieht, äußerst gering. Dennoch müssen wir darüber sprechen, wie Fluggäste geschützt werden können, ganz klar.
Warum nicht durch ein Berufsverbot?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Wir können mit unseren Methoden der Analyse zu Beginn der Berufstätigkeit einen Ist-Zustand diagnostizieren, aber für die Zukunft nur mit Wahrscheinlichkeiten operieren. Der zweite Grund: Es ist zwar eine arbeitsmedizinische Betreuung gesetzlich verankert, aber keine betriebspsychologische Betreuung. Arbeitsmediziner sind aber nicht unbedingt auf dem Gebiet psychischer Störungen ausgebildet. Und drittens: Selbst wenn Hinweise auf psychische Probleme da sind, fehlt es doch an adäquater Hilfe, an Therapiemöglichkeiten und Betreuung. Hier sind Verbesserungen nötig, damit eine Person sich nicht scheuen muss, zuzugestehen: Ich komme mit meiner Lebenssituation nicht klar, ich komme mit der Belastung nicht klar. Ähnlich selbstverständlich wie bei einer körperlichen Erkrankung sollte auch in diesem Fall Unterstützung möglich sein.
Aber die Realität sieht anders aus?
Wenn die Drohung im Hintergrund steht, dass ich mit einer psychischen Auffälligkeit nicht mehr gemäß meiner Ausbildung arbeiten und meinen Lebensunterhalt bestreiten kann, ist so eine Diagnose ein großes Risiko. Berufsverbot würde dazu führen, dass Personen, die bei sich zwar ein Hilfsbedürfnis spüren, es nicht offenbaren werden. Und es ist nicht leicht, solche Probleme bei jemandem zu entdecken, der nicht kooperiert. Besser wäre es, wenn Bedürftige Hilfe erhalten und wieder genesen.
Sie halten Verbesserungen in der psychischen Betreuung von Menschen in verantwortungsvollen Arbeitsgebieten für nötig?
Auf jeden Fall. Psychologische Begleitung als Angebot, als Unterstützung, als Förderung – das sind ja alles positive Begriffe – sollten gerade bei Beschäftigten mit enorm hoher Verantwortung für das Leben anderer Menschen intensiviert werden. Versuchte man Hürden aufzubauen, führte das eher dazu, dass Personen, die betroffen sind, es nicht eingestehen.
Warum gelingt es so schwer, psychische Krankheiten genau so normal zu erkennen und zu behandeln wie Diabetes oder Herzprobleme?
Die Medizin scheint weit entwickelt zu sein, aber im konkreten Fall haben viele erlebt, ist sie gar nicht so weit. Die Instrumente, jemandem zu helfen, sind auch in der Psychotherapie weit entwickelt und gut erforscht. Aber wenn wir bei der Diagnose meistens Wahrscheinlichkeitsaussagen machen, dann liegt das schlicht daran, dass die Einflussfaktoren so vielfältig sind. Die werden auch immer vielfältig bleiben. Das Leben wird immer riskant sein und wird immer mit Höhen und Tiefen verbunden sein. Wir können nicht jeden Menschen an die Hand nehmen. Darüber hinaus geben wir uns im Umgang mit psychischen Störungen und Krankheiten nach wie vor der Illusion hin, dass jeder diese aus eigener Kraft überwinden sollte und können müsste. Wir setzen auf das soziale Umfeld, die Primärfamilie, die Netzwerke. Mit dieser Individualisierungstendenz ist die Erwartung an den einzelnen verbunden, mit seinen Problemen selbstständig umzugehen. Doch die Fallzahlen zeigen, dass das nicht funktioniert.
Der arbeitsbedingte Druck scheint ja auch eher zu steigen.
Genau. Doch es gibt auch mehr Hilfsangebote. Wer Hilfe sucht, findet sie. Natürlich oft mit langen Wartezeiten, was in so einer Situation auch nicht gut ist. Wenn es mir im Moment körperlich schlecht geht und mir sagt einer, in zwei Monaten verschreibe ich ein Medikament, dann ist das keine gute Lösung. Im psychotherapeutischen Bereich ist das leider sehr oft so.
Wie erklären Sie sich trotz aller gegenteiligen Argumente, dass immer wieder Forderungen nach einem Berufsverbot laut werden?
Es ist immer schwierig, rational mit so einer Situation wie diesem Flugzeugabsturz umzugehen. Dieses Extrem hat uns gezeigt: Wir werden keine absolute Sicherheit bekommen. Sagte das ein politisch Verantwortlicher in der Öffentlichkeit, würde er keine Resonanz finden. Es ist bei diesen Katastrophen immer erst mal Aktivität gefragt. Und die geht so weit, dass eine repräsentative Befragung der Bevölkerung gemacht wird. Aus der Angst heraus wird dann gesagt, diese Leute dürfen gar nicht in verantwortungsvolle Funktionen. Aber noch einmal: Dadurch wird dieses Problem nicht lösbar sein.
Ihr Fazit ist nicht gerade ermutigend. Der Umgang mit depressiv erkrankten Menschen ist eigentlich eine große Baustelle.
So ist es. Bei anderen Krankheiten sind wir in der Gesellschaft schon ein Stück weiter. Bei diesem Problem haben wir erkannt, es wird nicht als Verschulden des Einzelnen begründet, sondern als Krankheit betrachtet. Und für diese Krankheit gibt es Hilfsmöglichkeiten. Arbeitgeber werden angehalten, diese wenn nötig in Gang zu bringen. Selbst, wenn jemand rückfällig wird, heißt es immer noch nicht, dass er seinen Arbeitsplatz verliert. Auch ein zweites Mal kann ein Entzug infrage kommen. Die Chance, dass eine Person trotz dieser maßgeblichen Einschränkung den Arbeitsplatz behält und sich stabilisiert, die haben wir gesellschaftlich ermöglicht.
Das Stigma ist nicht mehr ganz so groß.
Richtig, verglichen beispielsweise mit Alkoholismus ist der Umgang mit depressiven Erkrankungen noch deutlich verbesserungsbedürftig. Da ist es noch lange nicht selbstverständlich, durch betriebliche Gesundheitsförderung Unterstützung zu organisieren. Viele werden mit ihrer Erkrankung alleine gelassen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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