In Eisvogelfedern, unter Spießbürgern
Die Band Tocotronic gibt es jetzt seit 20 Jahren. Am 1. Mai erscheint ihr neues Album. Es ist rot und erzählt von der Liebe
Rot ist die Farbe der Liebe, des Lebens, des Zorns, aber auch die der revolutionären Linken. Man blickt auf eine strahlend rote Farbfläche, ein Gemälde von Kasimir Malewitsch, der anfangs des 20. Jahrhunderts - während gleichzeitig in Deutschland der Expressionismus aufkam - den »Suprematismus« erfand. So sieht das Cover des neuen Tocotronic-Albums aus, das, obwohl es bereits seit Tagen auf allen Kanälen rauf- und runtergestreamt wird, offiziell erst am 1. Mai erscheint, dem Tag der Arbeit. Am selben Abend findet auch das längst ausverkaufte Release-Konzert statt, im linken Traditionsclub »SO 36« in Kreuzberg. All das zusammen darf man für ein Statement halten, wenn man will, oder auch nicht.
Dass das Quartett auf dem neuen, sogenannten »roten Album«, das offiziell keinen Titel hat, die »Liebe« (»Du zitterst noch und hörst in dich hinein / Liebe wird das Ereignis sein«) zum Leitmotiv erhoben hat - zu einer Zeit, in der andere linke oder sich als Linke verstehende Künstler mit immer denselben ausgeleierten Parolen Krise, Krieg und Katastrophen beschwören -, ist beinahe rührend und irgendwie antizyklisch, aber natürlich auch ein Täuschungsmanöver. Womöglich ist hier eben nicht nur von der bereits totgesungenen romantischen Liebe die Rede, sondern auch von der Liebe zu den Abgehängten, den Integrationsunwilligen, den Anpassungsverweigerern, den Aussortierten, den Unverstandenen, den Unwillkommenen, den Abzuschiebenden: »Ihr / Die ihr euch unverzagt / Mit der Verachtung plagt / Gejagt an jedem Tag / Von euren Traumata / Die ihr jede Hilfe braucht / Unter Spießbürgern Spießruten lauft / Von der Herde angestiert / Mit ihren Fratzen konfrontiert / Die ihr nicht mehr weiter wisst / Und jede Zuneigung vermisst / Die ihr vor dem Abriss steht / Ihr habt meine / Solidarität« (»Solidarität«).
Die Mitglieder der Popgruppe Tocotronic, die erfreulicherweise im Gegensatz zu anderen auch das röhrend Mackerhafte anderer Rockbetriebsangestellter größtenteils erfolgreich abgelegt haben, wissen vermutlich, dass Kunst von Können kommt und nicht von Wollen und dass sich eine auch als politisch verstehende Popmusik nicht in schon mal gehörten, zu gefälligen Melodien angestimmten Politparolen erschöpft. Sie müssen also nicht auf jedem Album ihre Gesinnung vor sich her tragen wie der Pfarrer die Monstranz.
Im Lauf ihrer nun 20-jährigen Bandgeschichte haben sich Tocotronic immer wieder erfreulich unmissverständlich und sehr detailliert gegen den deutschen Nationalismus und seine Begleiterscheinungen ausgesprochen, gegen die rassistische Politik der verschiedenen Bundesregierungen, das Dumpfbackenwesen der Pegida-Stammtische und die ständig wachsende Schamlosigkeit im Umschreiben und der »Neubewertung« der deutschen NS-Vergangenheit. Und dafür kann man in einer Zeit wie der unseren, in der täglich die allgemeine Entpolitisierung, die Verblödung und die Zurichtung des Einzelnen auf die Erfordernisse des Marktes aufs Neue triumphieren, gar nicht genug dankbar sein. Lasst sie also über die Liebe singen, sei es nun die Liebe zu den Jugendlichen (»Man kann den Erwachsenen nicht trauen / Ihr Haar ist schütter / Ihre Hosen sind es auch«) oder zum vermeintlich Unbrauchbaren (»Sie irren / Wenn sie glauben / Dass man die Welt / Vom Müll befreien muss«).
Doch wenn, wie neulich auf »Spiegel Online«, die Musiker als »Mustermucker des deutschen Denkpops« und als die »deutscheste aller deutschen Rockbands« bezeichnet werden, ist auch das gar nicht so falsch: Deutsch an der Band ist ihr gelegentlicher Hang zu kitschiger Wald- und Wiesenromantik und zur pathetischen Überhöhung, ihre gelegentlich aufscheinende Streberhaftigkeit in der Verfolgung der Absicht, nur ja alles richtig zu machen, oder Lowtzows Hang zu esoterisch eingefärbtem Blabla (»Öffnung ist auch eine Umarmung der Gefährlichkeit«, »Man muss vielleicht auch nicht alles analysieren, stattdessen kann man es ja erfühlen«). Auch das immer penetranter werdende Bildungsgehuber der »großen Verrätselungskünstler« (»Süddeutsche Zeitung«) Tocotronic, ihre Entwicklung vom Rotzig-Unbekümmerten ihres ungestümen, simplen Gitarrenrocks der ersten Jahre und einer instinktiven Unmittelbarkeit hin zum krampfhaft Verkunsteten und Suhrkamphaften, die sich ja auch in den offiziellen Bildern der Band spiegelt: An die Stelle der schrillbunten Second-Hand-Klamotten sind irgendwann gebügelte schwarze und weiße Oberhemden und paisleygemusterte Schals getreten, an die Stelle des Ironisch-Verspielten mit der Zeit immer stärker das Dandyhaft-Existenzialistische. Die Punkrockgitarre wird seltener gespielt, und die milder, federnder, heiterer und vielfältiger gewordenen Töne des Instruments werden mehr und mehr von opulenten Streichern untermalt, manchmal auch ohne Scheu vor dem Pompösen.
Auch das rote Album setzt diesen Weg fort. Mal klingt das mehr nach süßlichem Nick Drake, mal mehr nach dem luftig-unbeschwerten Pop der sich sanftmütig, traurig und empfindsam gebenden Seitenscheitel-und Karottenhosen-Popbands der mittleren 80er Jahre. Das ist gut und nicht schlecht. Schlecht wäre, wenn alles beim Alten bliebe, aber das tat es bei Tocotronic ja erfreulicherweise nie.
Was die Texte angeht, die der Sänger zuweilen gleichsam entrückt im Singsang des Priesters und mit Tremolo darbietet, ist im Wesentlichen alles so geblieben wie auf den letzten paar Alben. Das Uneigentliche und das Unmittelbare sucht man vergeblich. In Dirk von Lowtzows hie und da noch immer an die legendären Verschenktexte von Kristiane Allert-Wybranietz erinnernden oder sich stefangeorgehaft gebenden, mal vom 08/15-Billigromantikwühltisch aufgelesenen, mal feierlich raunenden Songtexten, die oft wegen ihres hochtrabenden Tons, ihres beständigen Reimzwangs und ihrer gelegentlich zielsicher missglückten Metaphern an die unfreiwillige Komik heute wiedergelesener 70er-Jahre-Teestuben- und Empfindsamkeitslyrik erinnern, wurde noch der größten Banalität der Status des Wunderbaren verliehen, wurde noch das Simpelste wahlweise verschraubt oder vernebelt formuliert. So kannte man das. Aber hier hat man zumindest dem ganz dicken Schwulst ein wenig Einhalt geboten, wie es scheint. In der linken Zeitschrift »Konkret« heißt es dazu: »Die lyrische Größe liegt im Gegensatz zwischen starker Abstraktion, die eine Nebelwand erzeugt, und extremer Angreifbarkeit, die in der Nacktheit und Direktheit der einzelnen Wörter liegt.« Beim »Hamburger Abendblatt« formuliert man es etwas volkstümlicher: Lowtzow liebe es, »Sprache aufzusaugen und zu filtern, um sie dann in seinem ganz eigenen Duktus durchs Mikrofon zu schicken«. So kann man das natürlich auch sagen. Oder man kann haltlos schwärmen. Der Rezensent von Springers »Welt« findet auf dem neuen Tocotronic-Album »unendlich romantische Zeilen, die Eichendorff, Chamisso oder Karoline von Günderrode niemals fähig waren zu schreiben. Ihnen fehlte einfach die Empfindsamkeit, die Dirk von Lowtzow haben muss. Die die ganze Band haben muss.« So ist das also.
»Spiegel Online« zufolge soll es, in der Absicht, Kitsch möglichst zu vermeiden, während der Produktion des Albums »lange Diskussionen und Kontroversen« innerhalb der Gruppe gegeben haben. Allem Anschein nach hat sich Lowtzows wiederholt ins Schwülstige (»Ich öffne mich gänzlich für dich / wir fliehen zu zweit aus den Kerkern der Zeit«) rutschende Rätsellyrik am Ende aber doch durchgesetzt. »Zeitweilig verstorben / Gleite ich durch die Nacht / In Eisvogelfedern / Zerbrechliche Fracht.« Ein Tipp: Weniger Gedichte aus dem Fin de Siecle lesen. Oder besser vielleicht überhaupt keine Gedichte mehr.
Tocotronic: (Ohne Titel) (Das rote Album) / Universal
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