Die Drei ist die «Eins des kleinen Mannes»

Wie aussagekräftig sind Schulnoten? Hat ein notorischer Einser-Schüler wirklich mehr geleistet als einer, der sich von einer Vier auf eine Drei verbessert hat? Von Walter Schmidt

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

Nicht nur die pädagogischen Geister streiten sich über den Sinn und Unsinn von Schulnoten. Die Leistung eines Schülers zum Beispiel im Fach Englisch über ein Schulhalbjahr hinweg nur durch eine einzige Ziffer auf dem Zeugnis auszudrücken, kann erstens niemals mehr als eine Krücke sein bei dem Versuch, dem Leistungsstand halbwegs gerecht werden zu wollen. Zu viele Aspekte gehen in diese eine Note ein, und manche bleiben unberücksichtigt. Zweitens sind zwei Schüler mit einer Zwei im selben Fach natürlich nicht wirklich gleich gut auf diesem Gebiet, sondern weisen im Englischen jeweils persönliche Stärken und Schwächen auf, die allesamt in die Note einfließen, so etwa Mitarbeit und Hörverständnis, Wortschatz oder Sprachfertigkeit. Eine Endnote ist wie ein Blumenstrauß, dessen Blüten keiner mehr sieht. Und drittens verteilen unterschiedliche Lehrer nachweislich unterschiedliche Zensuren für dieselben Klassenarbeiten oder Abiturprüfungen - auch dann, wenn der Name der betreffenden Schüler keinerlei Rolle spielt.

Das alles wissen Kinder in der Regel nicht, wenn sie die jeweilige Note unter ihrer Klassenarbeit entdecken. Und schon gar nicht wissen sie etwas von absoluter und relativer Leistung: Natürlich ist ein Einser in Physik höchstwahrscheinlich die Zensur für größere Könnerschaft als ein Dreier - zumindest am Klausurtag. Doch der schwächer benotete Schüler kann sich immense Mühe gegeben, viel gelernt und seine Angst vor der schriftlichen Prüfung heldenhaft niedergerungen haben, um endlich von seiner Fünf herunterzukommen, während der Physik-Primus mit der Eins wieder einmal leichtherzig zur Sache gegangen war und vorzeitig hatte abgeben können. Große Fortschritte gemacht hat allein der schwächere Schüler; die bessere Note hat das Physik-Ass erhalten - wer also hat diesmal die bessere Leistung erbracht?

Die üblichen Schulnoten bewerten so etwas nicht, und nicht umsonst führen Notenkritiker auch diesen blinden Fleck gegen schlichte Zensuren ohne schriftliche Beurteilung ins Feld. «Leistung ist doch, was der Einzelne aus seinen Möglichkeiten macht», findet der Grundschulpädagoge Hans Brügelmann, bis 2012 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen. Vergleichend zu urteilen sei Unsinn, denn jede Bewertung müsse sich an den Fortschritten des einzelnen Schülers orientieren. Brügelmann gilt als Kritiker der Notenvergabe zumindest in der Grundschule - schon weil Schulnoten so praktisch seien bei dem in Deutschland üblichen Vorgehen, Kinder ständig und schon früh auszusortieren: sie zurückzustellen, sitzenbleiben zu lassen oder sie nach der vierten Klasse auf die verschiedenen Schultypen zu verteilen. Darüber hinaus verschleiere eine Schulnote «die Vielfalt des individuellen Leistungsspektrums».

Natürlich kommen Noten auch dem Bedürfnis von Kindern entgegen, ihre Leistungen einordnen zu können und sich mit Mitschülern oder Freunden zu messen - aber sie sind nicht der einzig mögliche Weg dorthin. Kinder brauchten nicht unbedingt Noten, sondern «Anerkennung und Bestätigung, weil sie wissen müssen, ob das, was sie gemacht haben, richtig und gut war», sagt der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin, selbst früher Gymnasiallehrer. «Sie wollen die Rückmeldung: »Habe ich richtig gerechnet? Habe ich toll gedribbelt?« Doch auch Ladenthin verweist auf den wichtigen Unterschied zwischen ergebnis- und anstrengungsbezogener Leistung. Für beide Spielarten erwarte der Mensch, gelobt und anerkannt zu werden. Und dies völlig zu Recht, »denn auch wenn uns etwas nicht gelingt, wir uns aber Mühe gegeben haben, ist das höher zu bewerten, als wenn wir uns erst gar nicht bemüht hätten«. Darauf spiele auch der Spruch an, wonach die Drei die Eins des kleinen Mannes ist. »Er betont den Anstrengungsbezug, verteilt Lob dafür, dass jemand sein Bestes gegeben hat - auch wenn es objektiv nicht zur Leistungsspitze gehört.« Dumm nur, wenn eine Schülerin oder ein Schüler sich grämt, dass sie oder er keine Eins bekommen hat. Eine Drei als Eins? Ein kleiner Mann? Und so etwas soll trösten? Der wohlmeinende Spruch ist also heikel.

Faire Eltern berücksichtigen jedenfalls immer beide Aspekte, wenn ihr Kind mit einer nicht so berauschenden Zensur nach Hause kommt. »Natürlich reicht es nicht aus, sich nur bemüht zu haben«, sagt Ladenthin. Aber ohne Bemühen, ohne Leistungsbereitschaft entstehe gar nichts. »Man sollte also das mäßige Ergebnis, das trotz großen Bemühens erreicht wurde, nicht schön reden; aber man sollte auch wegen des schlechteren Ergebnisses das Bemühen nicht missachten.« Man kann also sehr wohl den Einsatz des Kindes loben und doch das mäßige Ergebnis bedauern, am besten gemeinsam mit ihm. Dies umso mehr, je eher es unter seinen Möglichkeiten geblieben ist und dies selbst weiß. Anerkennen lässt sich auch dann noch viel und aufrichtig. Nach Meinung Volker Ladenthins könnte eine ebenso weise wie souveräne Einsicht dann lauten: »Man ist nicht gleichartig, aber gleichwertig.«

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