Von Vögeln und Menschen
Warum es mit der viel gepriesenen Intelligenz des Schwarms oft nicht weit her ist. Von Martin Koch
Wie kaum eine andere technische Erfindung hat das Internet unsere Gesellschaft verändert. Neben vielen anderen Vorzügen versetzt es Menschen in die Lage, jenseits geografischer und kultureller Grenzen in Echtzeit miteinander zu kommunizieren. Diese Form des Gedankentransfers hat nicht nur prägenden Einfluss auf die soziale Kon-struktion von Wirklichkeit. Internet-Communitys sind überdies zu erstaunlichen gemeinsamen Aktionen fähig: Sie entwickeln neue Software, überführen Prominente des Plagiats, bringen Diktaturen ins Wanken. Für IT-Visionäre besteht daher kein Zweifel: Das Netz aktiviert eine neue Form von Kreativität, die häufig auch als »Schwarmintelligenz« bezeichnet wird.
Ganz neu freilich ist dieser Begriff nicht. Er diente ursprünglich zur Beschreibung des Verhaltens von Fischen, Vögeln und Insekten, das in der Tat mitunter magisch anmutet. Vogelschwärme sind zum Beispiel in der Lage, wie auf Kommando blitzschnell ihre Flugrichtung zu ändern. Dennoch verfügen die Tiere über keinen »Anführer«, dem alle gezielt nacheifern. Vielmehr befolgt jeder Vogel nur drei einfache Regeln: Er fliegt immer in die gleiche Richtung wie seine Nachbarn, hält zu diesen einen gewissen Abstand und passt sich ihrer Geschwindigkeit an.
Auch Schwärme von Ameisen und Bienen formen eine solche Art von Superorganismus, der es ihnen erlaubt, sich verschiedenen Umweltsituationen anzupassen. Dass ein paar schlichte Regeln genügen, um eine Gemeinschaft zu einem für sie vorteilhaften Verhalten zu veranlassen, wird ebenso bei Menschen beobachtet. Wissenschaftler führten hierzu ein Experiment durch, und zwar auf einem gewöhnlichen Gehsteig, auf dem zunächst wenig Fußgängerverkehr herrschte. Um möglichst schnell voranzukommen, war jeder Passant bestrebt, entgegenkommenden Personen auszuweichen. Das funktionierte aber nur so lange, wie die Dichte der Fußgänger unter vier Personen pro Quadratmeter lag. Wurde dieser Wert überschritten, bildeten die Passanten parallele Gehströme, die ihnen weiterhin eine ungehinderte Fortbewegung ermöglichten. Das alles geschah spontan und unbewusst. Die meisten Passanten waren daher verblüfft, als man ihnen später in einem Video vorführte, wie sie sich auf dem Gehsteig selbst organisiert hatten.
Man mag nun darüber streiten, ob ein solches Verhalten tatsächlich das Prädikat »intelligent« verdient. Denn erfahrungsgemäß neigen Personen mit beschränkter Kenntnis des Systems, in dem sie agieren, häufig auch zu einem dysfunktionalen Gruppenverhalten. Das gilt für die zahllosen Staus auf Autobahnen ebenso wie für die Reaktionen einer Menschenmenge, die plötzlich in Gefahr gerät. Hier wendet in der Regel nicht eine kollektive bzw. Schwarmintelligenz alles zum Guten, vielmehr bricht Panik aus.
Noch schwieriger wird es, wenn man die Schwarmintelligenz als »Weisheit der Vielen« zu deuten versucht. Obwohl es auch dafür Ansatzpunkte gibt. Man denke nur an die Quizsendung »Wer wird Millionär?«. Während hier das bunt gemischte Publikum 91 Prozent aller Fragen richtig beantwortet, bringen es die Telefonjoker, deren Kenntnisse von den Kandidaten zumeist hoch gelobt werden, nur auf 65 Prozent. Allerdings ist dieses Beispiel irreführend. Denn erstens wird die richtige Antwort stets mit angegeben, und zweitens fällt die Mehrheit bei der Abstimmung über schwierigere Fragen häufig sehr knapp aus.
Überhaupt steht, wenn von Intelligenz die Rede ist, nicht Faktenwissen im Vordergrund, sondern die Fähigkeit einer Person oder Gruppe, Probleme zu lösen oder Schwierigkeiten zu überwinden. Dass ein Schwarm in dieser Hinsicht durchaus erfolgreich zu agieren vermag, zeigte vor Jahren die Piratenpartei, die das Internet gezielt zur innerparteilichen Willensbildung nutzte. Piraten konnten dort Anträge stellen und diskutieren und darüber zuletzt in einem Basisentscheid abstimmen. Wenn man den Begriff der Schwarmintelligenz so partizipatorisch auslege, sagt der Politikwissenschaftler Christoph Bieber, sei er gar nicht so weit entfernt von dem, was er und seine Kollegen als Deliberation bezeichneten, »also ein Verfahren der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung und Diskussion, die dann unter Einhaltung bestimmter Regeln zu einem rationalen Ergebnis führt«. Dies könne eine wichtige thematische Position sein, aber auch ein Textstück in einem Parteiprogramm. Tatsächlich ist es den Piraten in ihren besten Zeiten gelungen, Ideen zu entwickeln, die von vielen Menschen (und Wählern) akzeptiert wurden.
Am Ende jedoch erlahmte diese Dynamik. Denn je mehr Personen mit unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen sich an den Debatten beteiligten, desto allgemeiner und unbestimmter wurde die politische Programmatik. Zwar tat die Partei alles, um zumindest nach außen hin so etwas wie eine koordinierte Bewegung des »Piratenschwarms« zu vermitteln. Doch es half nichts: 2013 versanken die Piraten in die politische Bedeutungslosigkeit. Bereits im Jahr zuvor hatte Gernot Hassknecht von der ZDF-»heute-show« jeglicher politischer Schwarmbegeisterung eine derbe Absage erteilt. »Der Schwarm ist nicht intelligent«, wetterte er. »Der Schwarm ist ’ne faule Sau!«
Ganz so vulgär drückt sich der Mathematiker Gunter Dueck zwar nicht aus. Aber auch er spricht Klartext - in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel »Schwarmdumm. So blöd sind wir nur gemeinsam« (Campus Verlag, 324 S., 24,99 €.). Als langjähriger IBM-Mitarbeiter hat Dueck die Einsicht gewonnen, dass kollektive Intelligenz nur in Gruppen entsteht, in denen die Einzelnen Lust und Freude haben, ein vorhandenes Pro- blem zu lösen. Nicht die Weisheit irgendeiner anonymen Masse führe zur Schwarmintelligenz, sondern »die Weisheit eines speziellen Teams«, das sich für einen bestimmten Zweck zusammenfinde. Dies sei im Internet ebenso möglich wie in einem Unternehmen. Und: »Wenn das Problem gelöst ist, gehen alle wieder ihrer Wege. Neues Problem - neuer Schwarm.«
In der Wirtschaft läuft es dagegen oft anders. Statt die für jedes Pro- blem jeweils besten Mitarbeiter in immer neuen Teams zusammenzuführen, ist es in vielen Unternehmen üblich, die gleichen Teams mit der Lösung unterschiedlichster Aufgaben zu betrauen. Was dabei gewöhnlich herauskomme, sei Mittelmaß, weiß Dueck aus eigener Gruppenerfahrung zu berichten: »Wir bleiben brav innerhalb unseres Tellerrandes oder Gebäudeteils, wir zanken uns untereinander, wir reden nicht einmal mit einer anderen Abteilung im dritten Stock.« Schwarmintelligenz sei das nicht: »Hier herrscht Schwarmdummheit!«
Die Kreativität eines Kollektivs entsteht nicht gleichsam aus dem Nichts. Hinzu kommt, dass es häufig einzelne Personen sind, die mit genialen Ideen und oft gegen den Widerstand ihrer Umgebung den Grundstein für neue Entwicklungen legen. Aus der Geschichte könnte man hier Galileo Galilei, Charles Darwin oder Albert Einstein anführen. Aber auch Bill Gates gehört in diese Reihe, sowie Steve Jobs, der 2011 verstorbene Apple-Chef, der seinem »Mitarbeiterschwarm« zwar klare und anspruchsvolle Ziele stellte, dem Einzelnen aber maximale Freiheit gewährte, diese zu verwirklichen. Außerdem ließ er seine Mitarbeiter wissen, dass sie auch dann auf die Unterstützung der Firmenleitung zählen könnten, wenn sie mit neuen Ideen nicht sofort erfolgreich seien. So viel Fehlerfreundlichkeit findet man in deutschen Unternehmen eher selten. Hier ist Scheitern noch immer gleichbedeutend mit Versagen und wird auch so geahndet.
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