Eine bisher unbekannte Menschenart
Historische Funde in Äthiopien deuten auf »nahe Verwandte«, die vor rund 3,5 Millionen Jahren gelebt haben sollen
Das plötzliche Auftauchen von Verwandten löst immer Aufruhr aus - besonders, wenn sie ohne Anmeldung auf der Matte stehen oder ihre Existenz zuvor gänzlich unbekannt war. Das ist auch nicht anders, wenn diese Verwandten Millionen von Jahren alt sind. Vergangene Woche beschrieben Wissenschaftler in der Zeitschrift »Nature« zum ersten Mal ihren Fund: In Äthiopien entdeckten sie Kieferknochen und Zähne von vermutlich vier verschiedenen Individuen, die auf 3,3 und 3,5 Millionen Jahre zurückdatieren und einer bisher unbekannten Menschenart angehören sollen.
Der Fund bedeutet, dass dieser Mensch zur gleichen Zeit gelebt haben muss, wie bereits bekannte frühe Menschenarten. Die berühmte »Lucy« (Australopithecus afarensis), die lange Zeit als direkter Vorfahre des Homo Sapiens galt, teilte sich also ihren Lebensraum mit gar nicht allzu entfernten Cousins. Das potenzielle neue Familienmitglied wird Australopithecus deyiremeda genannt, oder »naher Verwandter« in der Sprache des Afar-Volkes. Er soll sowohl affen- als auch menschenartige Züge aufgewiesen haben.
Der Leiter des Projektes, Dr. Yohannes Haile-Selassie, ist Museumsleiter am amerikanischen Cleveland Museum der Naturkunde. Er erklärte: »Wir mussten uns die detaillierte Anatomie und Gestalt der Zähne sowie Ober- und Unterkiefer anschauen und haben große Unterschiede gefunden.« Zwar ähneln Kiefer und Zähne Lucys eigenen genug, um sie der gleichen Gattung zuzuordnen. Die neue Spezies habe allerdings sehr robuste Kiefer und kleinere Zähne gehabt. Besonders die kleinen Eckzähne deuten darauf hin, dass deyiremeda einer anderen Speisekarte folgte.
Ursprünglich ging die Wissenschaft davon aus, dass die heutige Menschheit direkt von Lucy abstammt, deren Menschenart vor 3,8 bis 2,9 Millionen Jahren lebte. Doch dann fand man immer mehr Verwandte, deren Existenz dieser Theorie widersprechen könnte; 2001 den Kenyanthropus platyops in Kenia und den Australopithecus bahrelghazali im Tschad und jetzt eben die »nahen Verwandten«, die anscheinend alle zur gleichen Zeit lebten. Allerdings sind sich die Forscher nicht gänzlich einig, ob es sich bei den verschiedenen Gebeinen auch immer tatsächlich um verschiedene Menschenarten handelt. »Einige unser Kollegen werden auch dieser neuen Menschenart gegenüber skeptisch sein, was nicht ungewöhnlich ist«, sagt Haile-Selassie.
Haile-Selassie und seine Koautoren glauben, dass ihr Fund nochmalige Untersuchungen möglicher Szenarien der Zeit vor dem Homo Sapiens anregen könnte. In einem Kommentar, der in der gleichen Ausgabe von »Nature« veröffentlicht wurde, bemerkte auch Fred Spoor vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, dass das Feld noch mehr Arbeit benötige, um die Spezies deutlich voneinander trennen zu können.
Allerdings scheint es immer wahrscheinlicher, dass Lucy nicht allein war und dass sie tatsächlich nicht die einzige Vorfahrin heutiger Menschen ist. Kürzlich gefundene Steinwerkzeuge vom gleichen Zeitraum deuten außerdem darauf hin, dass wenigstens eine der frühen Menschenarten entwickelt genug war, um Arbeitsmittel anzufertigen.
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