Der kleine Bagger durfte mit

Symbolische Beerdigung von Flüchtlingen vor dem Kanzleramt trotz widriger Umstände im Vorfeld

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 4 Min.
Zuletzt war eine Beerdigung auf der Wiese vor dem Bundeskanzleramt verboten worden. Die symbolische Aktion des »Zentrums für politische Schönheit« zum Gedenken an ertrunkene Flüchtlinge fand dennoch statt.

Darf der Bagger mitfahren oder nicht? Nein, nicht der große, mit dem vor dem Kanzleramt Gräber für die Opfer der EU-Flüchtlingspolitik ausgehoben werden sollten. Es ging um einen circa 20 Zentimeter langen Spielzugbagger, über den zu Beginn des »Marsches der Unentschlossenen« Polizisten diskutierten. Das Bezirksamt hatte schließlich generell das Mitführer von »Baggern« untersagt.

Es ist nur eine der unzähligen Fragen, die an diesem Sonntagnachmittag diskutiert werden. »Schaffen die das wirklich?«, ist noch so eine. Gemeint sind die Künstler, Aktivisten und Anhänger des »Zentrums für Politische Schönheit«. Diese wollten am Sonntag den Vorplatz des Kanzleramtes in einen Friedhof verwandeln. Einen symbolischen, für die Zehntausenden Opfer der EU-Flüchtlingspolitik.

»Ist das eine Demonstration oder ein Trauermarsch?« Das ist eine weitere dieser Fragen. Vielleicht 5000 Menschen kamen. Viele in Schwarz. Einige tragen Blumen oder Holzkreuze mit Bekenntnissen zu mehr Flüchtlingssolidarität. Blumengebinde. Weiter hinten eine Regenbogenfahne. Vorweg fährt der Leichenwagen. Klar sei natürlich, »dass vor dem Bundeskanzleramt keine Leichen bestattet werden«, sagt Christian Hanke, Bezirksbürgermeister Berlin Mitte. Aber geht es darum?

Aus anonymen Massengräbern, Müllsäcken und Kühlschränken holten die Künstler (oder Aktivisten?) einige von der EU-Außengrenze nach Deutschland, um sie mit Würde zu begraben. Holten sie sie wirklich? Wieder so eine Frage. Anfang der Woche bestatten sie eine Syrerin und einen leeren Sarg für ihr totes Kind auf einem Berliner Friedhof. Ob in den Kisten wirklich Leichen sind? Ob Angehörige unter den Trauergästen? Überall in Deutschland und Europa errichteten Menschen in der letzten Woche symbolisch Gräber im öffentlichen Raum: In Zürich, Berlin Schwerin, Köln, Dresden, Düsseldorf, Hannover, Koblenz, Brüssel, München, Stockholm ... »Friedhof für den unbekannten Einwanderer« nennt Stefan Pelzer, der »Eskalationsbeauftragte« des ZPS, die Gedenkstätte, zu der sich rund 5000 Menschen Unter den Linden aufmachen. In der Friedhofsanimation der nahezu perfekt choreografierten Aktion wirkt dieser fast so echt, als könne es ihn wirklich geben. So real soll es auch wirken.

Als einige Demonstranten dem Trauermarsch vorauseilen, ruft einer per Megafon: »Ihr seid zu schnell«. Sie warten. Als der Protest das Kanzleramt erreicht, ruft einer »Um Europa keine Mauer, Bleiberecht für alle und auf Dauer«. Niemand der Trauernden antwortet. Nur die Blinklichter Dutzender Polizeitransporter und Hunderte behelmte Polizisten lassen ahnen, worum es hier eigentlich geht. Doch dass sich alle an die Choreografie halten und Tausende Menschen fast geräuschlos durch das Regierungsviertel ziehen, macht die Aktion nur noch eindringlicher.

Es liegt wohl am Charakter eines solch stillen Protest, dass das Grummeln der Kritiker umso lauter zu hören ist. Politische Inszenierung? Makaber? Pietätlos? Die ganze Woche diskutierten Medien und Politiker. Nicht über tote Flüchtlinge. »Bei allem Respekt vor humanitärem Engagement: Mit solchen Aktionen werden Grenzen der Pietät überschritten«, sagte der Talkshowbeauftragte der Union, Wolfgang Bosbach. Sein Pendant im Regierungsviertel am Sonntagnachmittag trägt blaue Latzhosen. »Was soll der Scheiß?« ruft ein Mann vom Bürgersteig. »Die kommen doch hoffentlich nicht durch hier«, sorgt sich ein Ehepaar. Sie müssten noch auf ein Konzert. »Das sind alle welche, die keine Steuern bezahlen. Bei mir in Hamburg ist ja alles rot«. Wir versuchen dafür zu sorgen, dass es hier nicht so wird, beruhigt sie ein Polizist.

»Die Leichen zu exhumieren, sie zu bestatten und sie zu zeigen, soll pietätlos sein. Und sie zu verursachen, nicht?«. Die Frage stammt von Stephanie. Sie trägt eine Sonnenblume in der Hand. Aber man könnte sie auch den meisten anderen Demonstranten an diesem Nachmittag in den Mund legen. Als am Sonntagnachmittag vor dem Kanzleramt kein Friedhof eröffnet wird, stürmen Aktivisten den Rasen vor dem Bundestag gegenüber. Vorbei ist es mit der politischen Schönheit: Demonstranten skandieren Parolen, Polizisten knüppeln. Nur im Hintergrund legen vier junge Frauen aus kleinen Stöckchen die Umrisse eines Grabes und schlagen ein Kreuz in die Erde.

Bleibt die am häufigsten gestellte und zugleich überflüssigste Frage zu solch einer Aktion: »Darf man das?« Die Antwort gibt es schon seit Längerem. Sie stammt vom Erfinder des »Zentrums für Politische Schönheit«, Philipp Ruch: »Wenn Humanismus als Kunst deklariert werden muss, dann sind wir als Gesellschaft am Ende.« Der Spielzeugbagger durfte übrigens mitfahren. Die Holzkreuze für die toten Flüchtlinge wurden von der Berliner Polizei wieder eingesammelt.

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