Seismograph der ostdeutschen Befindlichkeiten
Volkssolidarität präsentierte Umfragedaten aus 25 Jahren - 2015 fehlt das Geld für neuen Sozialreport
Wer wissen will, wie sich die Einstellungen der Ostdeutschen im Laufe der letzten 25 Jahre verändert haben, der schaue in die am Dienstag von der Volkssolidarität veröffentlichte Publikation »Die deutsche Vereinigung 1989 bis 2015«. Darin bereitet der Soziologe und langjährige Präsident von Ostdeutschlands größtem Sozialverband, Gunnar Winkler, das gewaltige Datenmaterial auf, das seit 1989 durch Befragungen Ost- und später auch Westdeutscher zusammengetragen wurde. Grundlage sind die alljährlich aktualisierten Sozialreporte der Volkssolidarität, die vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg (SFZ) mit Hilfe von Umfragen erarbeitet wurden.
So konnte Gunnar Winkler mit einigem Recht behaupten, dass seine Publikation die »Sicht der Ostdeutschen« abbilde. Demnach herrsche in den neuen Ländern kein »Gleichheitsfimmel«, der alle Unterschiede negieren wolle. Stattdessen gilt bei den meisten Befragten die Maxime: »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«.
Die Zahlen, die Winkler zusammengetragen hat, offenbaren auch, dass sich die Kluft zwischen alten und neuen Ländern nicht schließt. Seit 2000 sei die Ost-West-Lücke zwischen dem Spitzenreiter Ost und dem struktur- und einkommensschwächsten Alt-Bundesland stabil, kritisierte Winkler. Während das klamme Schleswig-Holstein 2014 pro Kopf ein Bruttosozialprodukt (BSP) von 29 837 Euro verbuchen konnte, kam der wirtschaftsstärkste ostdeutsche Vertreter Sachsen auf nur 26 851 Euro. Im gesamten Westen ist das durchschnittliche BSP um fast 12 500 Euro höher als im Osten. Winkler rechnet nicht damit, dass sich die Unterschiede in den nächsten 15 bis 25 Jahren nivellieren werden. Dafür fehle es dem Osten an Industrie und vor allem industrienaher Forschung und Entwicklung.
Zudem altert die Bevölkerung. Auch weil seit 1989 fast vier Millionen überwiegend junge und gut ausgebildete Ostdeutsche »ihren Wohnsitz Richtung Westen verlassen« haben. In umgekehrter Richtung kamen im selben Zeitraum 2,1 Millionen Menschen, vornehmlich Aufbauhelfer im »Mittelalter«.
Die Bürger in den neuen Ländern legen zudem größeren Wert auf soziale Sicherheit als ihre Brüder und Schwestern westlich der Elbe. Allerdings seien die unter 30-Jährigen »relativ dicht an den Werten der Westländer«, so Winkler.
Der ehemalige Wismut-Bergmann räumte mit dem Mythos auf, dass ostdeutsche Rentner mehr Geld zur Verfügung hätten als westdeutsche. Zwar falle die Rente in den neuen Ländern tatsächlich höher aus, allerdings lägen die Alterseinkommen insgesamt nur bei 70 Prozent des Westwertes. Denn anders als in den alten Ländern, bezögen Ostdeutsche nur Rente, kaum aber Beamtenpensionen oder Kapitaleinkünfte.
Trotzdem beurteilen die Ostdeutschen den Stand der Deutschen Einheit zunehmend positiver. Waren 2002 noch 59 Prozent der Meinung, es bestünden »große Unterschiede« zwischen Ost und West, waren es 2014 nur 48 Prozent. Relativ konstant blieb mit 18 Prozent der Anteil jener, die glauben, es werde auch »in 50 Jahren noch Unterschiede« geben. Lediglich vier Prozent stimmten 2014 der Aussage zu, »Ost und West sind zusammengewachsen«. So richtig im Westen angekommen ist nur eine Minderheit. Immerhin 54 Prozent der Ostdeutschen fühlten sich 2014 in der Bundesrepublik noch nicht richtig wohl. Sieben Prozent wollten »am liebsten die DDR wiederhaben«. Nur 33 Prozent fühlen sich als »richtiger Bundesbürger«.
Interessant auch, wie sich die Einstellungen gegenüber »Ausländern« verändert haben. Waren 1997 noch 51 Prozent der Meinung, es gäbe zu viele Fremde, waren es 2014 rund 32 Prozent. Kein Grund zum Jubeln, aber immerhin eine Entwicklung in die richtige Richtung. Solche Zahlen, die auch Veränderungen abbilden, sind wertvoll - nicht nur für Forscher. Um so bedauerlicher, dass in diesem Jahr erstmals seit 1990 keine neuen Umfragen mehr durchgeführt werden. Volkssolidaritäts-Präsident Wolfram Friedersdorff betonte, die Volkssolidarität allein habe die Kosten nicht stemmen können. Reinhard Liebscher vom SFZ-Forschungszentrum, das die Befragungen bislang durchführte, sagte auf nd-Nachfrage, dass man »keine Mittel gefunden« habe. Bleibt zu hoffen, dass die Forschungsreihe 2016 fortgesetzt werden kann.
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