Der Umrubeltrick
Brüderlich verbunden: Nicht nur Oligarch Chodorkowski machte in den Umbruchzeiten aus Nichts ein Vermögen. Von René Heilig
Tausche Blaue gegen grüne Kacheln.« Die D-Mark war lange vor dem Fall der Mauer vielseitiges Objekt der Begierde. Doch was östlich des Eisernen Vorhangs losging, nachdem sämtliche staatliche Autoritäten zerfielen, übertraf jede bis dahin bekannte kriminelle Energie. Und zwar staatenübergreifend. Da konnte man Summen »umrubeln« ...
Michail Borissowitsch Chodorkowski war, als die Berliner Mauer fiel, nichts als ein kleiner diplomierter Chemiker. Doch der Absolvent des Mendelejew-Instituts in Moskau arbeitete zugleich als Funktionär des Komsomol. Die Jugendorganisation der kommunistischen Partei ist vergleichbar mit der FDJ in der DDR, und so ein Propagandajob machte niemanden reich. Eigentlich. Doch der Spruch, dass die eine Hand die andere wäscht, scheint tatsächlich eine im Zarenreich entwickelte und von der Sowjetmacht perfektionierte Gesellschaftstechnologie zu sein.
Warum auch immer: Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der letzte Chef der KPdSU, öffnete Leuten wie Chodorkowski den Weg zu Reichtum und Macht. Per Gesetz. So gestattete man dem Politorgan Komsomol urplötzlich, nach marktwirtschaftlichen Methoden zu operieren. Pioniergeist wurde frei.
Als Leiter des »Zentrums für wissenschaftlich-technisches Schöpfertum der Jugendstiftung für Jugendinitiative« (NTTM) wusste auch Chodorkowski seine Chance zu nutzen. Er kaufte im Westen Computer, Jeans und Schnaps. Dafür exportierte er Matrjoschka-Puppen. Der Rest ergab sich fast von allein. Gerade dreißig Jahre alt geworden, erklärte der Funktionär der kommunistischen Jugend, der es sich inzwischen unter den Fittichen des präsidialen Trinkers Boris Jelzin bequem gemacht hatte: »Wir wollen nicht verbergen, dass wir beseelt sind vom Reichtum. Unsere Ziele sind klar, die Aufgaben festgelegt - wir wollen Milliardäre werden. Wir haben die Nase voll vom Leben nach Lenin! Unser Idol ist ihre Majestät, das Kapital.«
2004 - da hatte der Mann, der inzwischen Banken beherrschte und Chef des Ölkonzerns Yukos war, bereits Ärger mit Wladimir Putin, dem neuen starken Mann im Kreml - schätzte das Wirtschaftsmagazin »Forbes« das Vermögen des Jung-Oligarchen auf 15,2 Milliarden US-Dollar. Damit stand Chodorkowski auf Platz 16 der reichsten Menschen der Welt und war der Krösus von Russland.
Es gibt Ermittler aus dem Bereich Vereinigungskriminalität, die schwören, dass ihnen die NTTM und deren Chef um Wendezeiten »auf den Tisch gekommen« seien. Und zwar im Zusammenhang mit dem Problem Transferrubel.
Der Trick mit dem Transfer-Rubel war in den Monaten nach der Währungsunion eine der einfachsten und lukrativsten Betrügereien. Der Außenhandel zwischen den Staaten des ehemaligen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), zu denen auch die DDR gehörte, wurde mangels frei konvertierbarer Währungen der Mitgliedstaaten seit den 60er Jahren auf Basis des »Transferablen Rubels« abgewickelt. Das war eine Kunstwährung, ein Transfer-Rubel war 4,67 Mark der DDR wert. In Moskau gab es eine Internationale Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ), die als eine Art Clearingstelle mit den Außenhandelsbanken der einzelnen RGW-Staaten zusammenarbeitete. Im zwischenstaatlichen Handel gab es zwei Abrechnungsmöglichkeiten: Sofortbezahlung und Vorauskasse.
Das Sofortbezahlungsverfahren setzte voraus, dass die Ware zum Zeitpunkt der Abrechnung durch die Außenhandelsbank bereits beim Empfänger eingetroffen war. Der Verkäufer in der DDR reichte dann bei seiner Außenhandelsbank die Vertrags- und Lieferunterlagen ein, die nach einer überschlägigen Prüfung der Dokumente aus ihrem eigenen Vermögen dem Verkäufer den Kaufpreis in Mark der DDR (bzw. später DM) gutschrieb und gleichzeitig gegen die IBWZ eine »Forderung« geltend machte, die ihrerseits die Außenhandelsbank des Empfängerlandes »belastete«.
Beim Vorkasseverfahren »beschaffte« sich der Käufer durch Vorlage der entsprechenden Vertragsunterlagen bei seiner Außenhandelsbank Transferrubel und ließ sie über die Außenhandelsbank des Empfängerlandes dem Verkäufer »zukommen«, sodass dem Verkäufer der Kaufpreis schon vor der Warenlieferung gutgeschrieben werden konnte.
Spätestens mit Einführung der D-Mark in der DDR zum 1. Juli 1990 hätte eigentlich die Teilnahme der DDR an dem Verfahren beendet werden müssen. Eine sofortige Umstellung des Außenhandels der DDR mit ihren östlichen Partnern auf der Basis harter Devisen hätte aber das RGW-System über Nacht zusammenbrechen lassen. Niemand im siechen sozialistischen Lager verfügte über ausreichend Devisen, um weiter am Handel mit den Deutschen teilnehmen zu können. Um den Crash, der die ostdeutsche Wirtschaft ex-trem getroffen hätte, hinauszuzögern, arbeitete man noch bis zum 31. Dezember 1990 nach dem bisherigen Verfahren. Hierfür musste letztlich die Bundesrepublik Deutschland - also deren Steuerzahler - einstehen, die bei der Wiedervereinigung in die Außenhandelsverpflichtungen der DDR eingetreten war.
Obwohl eigentlich nur alte Lieferkontrakte mit DDR-Produkten abgewickelt werden sollten, explodierten im zweiten Halbjahr 1990 die »Exporte« ostdeutscher Betriebe in die östlichen ehemaligen Bruderstaaten. Die Treuhand war über jeden vorgezeigten Vertrag zufrieden, verhieß er doch in all dem Niedergang scheinbar weiteres erfolgreiches Wirtschaften. Nach dem 1. Juli 1990 konnte man einen Transferrubel in 2,34 D-Mark »umrubeln«. Scheingeschäfte, die nur auf dem Papier standen, rückdatierte Lieferverträge und maßlos überhöhte Exportpreise wurden fast als Kavaliersdelikte angesehen. Nur keinen Stress, hieß es aus Bonn. Dabei dachte man gewiss nicht nur an die noch über 300 000 Rotarmisten, die man ohne Probleme aus Deutschland fortschaffen wollte, weshalb man sich die russische Seite mithin gewogen halten musste.
Die deutschen Vertragspartner reichten ihre »Dokumente« ein, und die Deutsche Außenhandelsbank (DABA) veranlasste die Zahlung der Summe - obwohl es in einer Vielzahl der Fälle zu gar keiner Warenlieferung gekommen war. Die Ermittlungen gegen Transferrubel-Betrüger gestalteten sich äußerst schwierig, denn Unterlagen über Ausfuhrgenehmigungen der früheren DDR sind »offensichtlich im Reißwolf gelandet«, wie das Bonner Wirtschaftsministerium festgestellt hat. Zudem ließen sich Empfänger unberechtigter Auszahlungen in Milliardenhöhe oft nicht mehr ausfindig machen, weil Namen von Firmen benutzt wurden, die nie existierten.
Das Verfahren betraf aber nur in der DDR ansässige Unternehmen und auch nur den Im- und Export von in den RGW-Staaten produzierten Gütern. Was aber »Westbetriebe« nicht daran hinderte, sich via Strohmännern an dem System zu bereichern. Viel berichtet wurde damals über den Coup eines thüringischen Elektrotechnikers, der immerhin 40 Millionen DM durch Vorlage fingierter Unterlagen auf diese Weise erschlichen hat. Diese wollte er aber nicht selbst gefälscht, sondern von einem Bayern erhalten haben, der mit angeblichen Lieferungen von Benzin, Zigaretten und Reifen nach Ungarn schnellen Gewinn machen wollte. Der Thüringer hat behauptet, das gesamte umgerubelte Geld dem Bayern abgeliefert zu haben. Von dem fehlte aber jede Spur, der Thüringer wurde 1998 zu vier Jahren Haft verurteilt. Der Fall betraf »kleine Fische«. Große hat man nie gefangen.
Was zunächst daherkam wie reine Buchhaltertricks, die zum Teil auch zum Erhalt von DDR-Betrieben angewandt wurden, entwickelte sich schon bald zu einem blutigen Geschäft. Denn es dauerte nicht lange, da mischte die Organisierte Kriminalität mit. Deren Kassierer ließen ihren Opfern - wenn überhaupt - nur die Wahl der Todesart.
Was die Russenmafia bei dem Geschäft verdiente, wurde zum Gutteil wieder investiert. Im Westen. Ein interner Bericht der Berliner Kriminalpolizei nannte Ende 1994 vier Banden aus den GUS-Staaten, die seit Anfang der 90er Jahre in der deutschen Hauptstadt durch »Erpressung und Gewaltverbrechen auffällig geworden« sind. Dazu gehören die Moskauer »Dolgoprudenskaja«-Bande sowie Gruppen aus Tschetschenien, dem ukrainischen Lwow und Georgien. In Berlin existierten zu diesem Zeitpunkt bereits über einhundert Firmen, die von Russen betrieben wurden. Viele dieser Unternehmen waren Spielhallen, aber auch Restaurants und dubiose Import-Export-Firmen, die zum Schmuggel und zur Geldwäsche genutzt wurden.
Dies war auf der Betrügerskala die schmutzige Seite. Nicht jeder konnte eben in diesen aufregenden Zeiten ein so cooler Komsomol-Sekretär sein wie der Herr Chodorkowski.
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