Aufstand der »Zahlmeister«
Gleich 63 Kommunen in Sachsen-Anhalt klagen gegen das Gesetz zur Kinderbetreuung
In Sachsen-Anhalt gibt es 122 Kommunen. Die Namen der Hälfte von ihnen durfte Winfried Schubert, Präsident des Verfassungsgerichts im Land, am Dienstag zum Auftakt einer Verhandlung über das Gesetz zur Kinderbetreuung verlesen. Immerhin 63 Städte und Gemeinden gingen gegen dessen Neufassung, die im Januar 2013 von der Magdeburger Koalition aus CDU und SPD beschlossen worden war, auf die Barrikade. Sie reichten eine Klage ein, über die nach langer Wartezeit am Dienstag verhandelt wurde.
Bis klar ist, ob der Aufstand gegen das Gesetz Erfolg hatte, ist indes weiter Geduld nötig: Ein Urteil will das Gericht erst am 20. Oktober sprechen. Die Kommunen wehren sich im Kern dagegen, dass sie Arbeit verloren haben: Für die Planung der Kinderbetreuung wurden mit der Gesetzesänderung die Landkreise zuständig gemacht. Allerdings stehen die Städte und Gemeinden finanziell weiter in der Pflicht: Sie tragen, gemeinsam mit den Eltern, den Teil der Kosten, den Zuschüsse von Land und Landkreisen nicht decken. Sie sähen sich »in die Rolle als alleiniger Zahlmeister gedrängt«, ohne aber entscheiden zu dürfen, sagt Johannes Dietlein, Rechtswissenschaftler aus Düsseldorf, der die klagenden Kommunen vor Gericht vertritt: »Sie kamen nicht umhin, sich dagegen zu wehren.«
Das Land begründet die Neuregelung mit potenziellen Interessenkonflikten. Die Kommunen hätten zuvor die Kinderbetreuung gesteuert, gleichzeitig betrieben viele aber eigene Kitas, die womöglich gegenüber denen freier Träger bevorzugt würden. Diesen »Anschein von Parteilichkeit« habe man beseitigen wollen, sagte der Freiburger Jurist Matthias Jestaedt, der die Regierung vertritt. Ohnehin kehre man nur zur bis 2003 geübten Praxis zurück: »Ein Regelungsexperiment wird beendet.« Die Kläger wenden ein, dass es »keinerlei Anhaltspunkte« für eine Benachteiligung freier Kitas gebe, deren Zahl selbst nach Angaben der Landesregierung stetig steige. Die Verlagerung der Aufgabe zu den Kreisen sei ein »ganz massiver Eingriff« in die kommunale Selbstverwaltung und könnte das Tor für deren weitere Aushöhlung öffnen, warnte Dietlein.
In dem Konflikt geht es freilich nicht nur um Zuständigkeiten, sondern auch um Geld. Das Land gibt pädagogische Standards vor. Nach Angaben der Städte und Gemeinden steigen dadurch die Kosten - und zwar »dramatisch«, sagte Jürgen Leindecker, der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, vor Gericht. Als SPD-Sozialminister Norbert Bischoff das Ganze ein »finanziell auskömmliches Gesetz« nannte, erntete er Gelächter unter den Bürgermeistern.
Leindecker erwartet, dass das wahre Ausmaß der Kostensteigerung im Laufe des Jahres deutlich wird. Schon im Frühjahr gab es Proteste von Eltern, deren Beiträge explodierten. Das Thema ist brisant; 2016 wird ein neuer Landtag gewählt. Die CDU hat bereits angekündigt, Eltern bei den Gebühren zu entlasten, auch wenn es dafür »an anderer Stelle« wieder Einschnitte gebe. Das war als Attacke auf den Ganztagsanspruch für alle Kinder interpretiert worden, der 2003 abgeschafft und erst mit der Novelle von 2013 wieder gewährleistet wurde. Wenn die Verfassungsrichter im Oktober urteilen, ist der Wahlkampf bereits in vollem Gang.
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