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Schweizer Wetter

Michael Fehr: Ein Krimi als Klang

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Schweiz im Schlamm? Stellt man sich nicht lieber Almwiesen unter blauem Himmel vor oder eine malerische Stadt am See? Aber mit Postkartenidylle will Literatur natürlich nicht dienen. Und Michael Fehr hat mit »Simeliberg« große Literatur geschaffen. Einen Krimi, der mitreißt und verstört, der noch lange in einem nachhallt, weil manches ein Rätsel bleibt.

»Grau / nass/ trüb/ ein Schweizer Wetter/ ziemlich ab vom Schuss« - so beginnt der Text. Rhythmische Prosa, die auch bei stiller Lektüre ihre Kraft behält. Dennoch: Dies ist eine Geschichte, die den Live-Vortrag des Autors will oder das eigene laute Lesen. Vielleicht wäre sie so nicht entstanden, wenn Michael Fehr sehen könnte wie du und ich. Aber er leidet an einer juvenilen Makuladegeneration, einer Sehschwäche, die ihn zwingt, seine Werke per Diktat zu erstellen. Die Lektüre macht neugierig auf die Person des Autors. Der Schriftsteller sei 1982 geboren und in Gümligen bei Bern aufgewachsen, erfährt man aus der Kurzbiografie im Buch. Youtoube zeigt einen schlanken, fast hageren Mann in Schwarz, dessen Schwizerdütsch für unsereins teils schwer verständlich ist.

Aber »Simeliberg«, ausgezeichnet beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2014, ist in Hochdeutsch verfasst. In einer ungemein präzisen, atmosphärisch dichten Sprache. Sollte man kürzen müssen, täte es einem leid um jedes Wort. Die Einsprengsel aus dem Alemannischen werden im Glossar erklärt, man versteht sie auch so, weil man sich bald schon selbst in dieser Wirklichkeit fühlt. Über einen »pflotschigen Karrweg« fährt Gemeindsverwalter Griese zu einem abgelegenen Haus. In seinem verdreckten Landrover verstaut hat er für alle Fälle eine »Bauernundwaldschratrepetierbüchse«. Die braucht er allerdings nicht, um den Bauern Schwarz abzuholen. Der soll mit aufs Amt, um seine Fürsorgeansprüche zu klären. Eigentlich gehöre er in Polizeigewahrsam, denkt Griese. Seine Frau wurde lang nicht gesehen. Hat er sie umgebracht?

Da rollt sich ein Kriminalfall auf, aber in den Vordergrund rückt anderes. Grieses Gehabe und Schwarz’ Gerede über Sozialismus, Ultranationalismus und künftige Marsexpeditionen. Nicht ganz richtig im Kopf scheint das Bäuerlein, aber auch nicht ganz dumm. Eine Kassette voll Tausender zeigt er dem Verwalter, spricht von einer Kiste russischer Maschinenpistolen. »Wenn die Zeit kommt/ sag ich dir/ wenn die Zeit reif ist …«

Aber dann geht alles ganz schnell. Während Schwarz, wie Griese wollte, in Untersuchungshaft sitzt, wird im Garten die Leiche seiner Frau ausgegraben - keines gewaltsamen Todes gestorben. Doch bald werden noch mehr Särge nötig sein. Griese beobachtet junge Männer in schwarzen Uniformen, die Benzinfässer in Schwarz’ Haus rollen. Einer, Anton, der Sohn jener Frau, mit der er ab und an schläft, richtet eine Maschinenpistole auf ihn und gibt sich martialisch. »Eine neue Ordnung von Starken wollen wir …/ Macht dem Heimatland/ davon verstehst du nichts/ du bist ein kleiner Scheisser aus dem scheiss Ausland …« Darauf wird Griese immer wieder angesprochen, nicht nur wegen seines Vornamens Anatol. Muss sich erklären, sogar im Waffenladen, wo er ein Zielfernrohr kauft: »Mein Vater war Deutscher/ aber meine Mutter ist von hier«. Herkunft scheint eine Rolle zu spielen auch bei der Polizei, die bald noch einen größeren Kriminalfall zu untersuchen hat. Sieben Tote, das Haus von Schwarz in Trümmern.

Was ist geschehen? »Scheisser«, so nennt ihn nun auch die Kommissarin, die seine Lampe am Tatort gefunden hat. Man blättert zurück. Könnte es sein? Ein überdiensteifriger Mann, ein Dorf, wo man einander misstrauisch beäugt (wieso hat Bauer Schwarz so ein großes Haus?), dazu Ordnungshüter, mit denen man lieber nichts zu tun haben möchte. Der Amtsschimmel wiehert und will die schwarzen Uniformen nicht sehen. Nazis in der Schweiz - mit Schlagworten kommt man dem nicht bei, was hier beunruhigend im Untergrund ist. Denn: »mit dem Nationalismus kriegst du sie bald dran/ die Masse/ die Heimatlosen/ Tatendurstigen …«, so prophezeit Schwarz, »von nationalistischen Werten kann die Elite im Dunkeln sauber den Rahm abschöpfen und unbehelligt die Massen pressen und melken …«

Michael Fehr: Simeliberg. Verlag Der gesunde Menschenverstand. 140 S., Leinen, 22 €.

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