Nabucco - grandios in den Sand gesetzt
Christian Stückl brachte Verdis Oper über Hebräer und Babylonier auf die Oberammergauer Passionsbühne
Dass »Nabucco« in den Sand gesetzt wird, überrascht nicht. Natürlich nur rein technisch-bildnerisch betrachtet. Der quarzhaltige Stoff, aus dem die Wüsten sind, ist denn auch reichlich über die 42 Meter breite, nach oben offene Bühne verteilt. Dahinter erhebt sich eine zweigeschossige Tempelfront, deren von antik stilisierten Säulen getragene Gelasse Belebung durch die Barden erwarten. Aktuelle TV-Bilder vom syrischen Palmyra kommen in den Sinn. Alte Kultur, neuer Krieg.
Wir sind im historischen Orient, genauer: im Passionstheater von Oberammergau. Hier, wo alle zehn Jahre (nächstens 2020) das »Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus« unter Mitwirkung Tausender Bewohner der oberbayerischen Gemeinde Hunderttausende Besucher in den biblischen Bann zieht, hat Regisseur Christian Stückl in diesem Jahr Giuseppe Verdis Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen der Hebräer in der babylonischen Gefangenschaft inszeniert.
Die 1842 in der Mailänder Scala uraufgeführte Oper, Verdis Ruhm begründend, hat in Oberammergau bei italienischem Idealwetter Premiere. Wozu die »Operation Wüstensturm«, die mit der Ouvertüre losbricht, unter dem strahlend blauen Abendhimmel einen düster-beklemmenden Kontrast abgibt: Das im Tempel von Jerusalem versammelte Hebräervolk (gekleidet in gedeckt-farbige ästhetisch-stilvolle Ärmlichkeit) harrt verzweifelnd des Einfalls der Truppen des babylonischen Königs. Nebukadnezars (ital. Nabucco) Soldateska mit Khaki-Kampfanzügen, Wüstenstahlhelmen, Sandbrillen und Kalaschnikows zieht in ihrer Maskerade optisch die ungebrochene und offenbar endlose Konfliktlinie aus dem 6. Jahrhundert vor Christus bis ins Heute der demokratisch gefirnissten »regime changes«, der atavistischen Religionskriege, des Wütens der Wiedergänger von Tempelschändern und Bilderstürmern (Kostüme und Bühne: Stefan Hageneier).
Stückl, als international erfahrener Theatermann ohnehin kein Freund von tagespolitisch-banaler Durchsichtigkeit, lässt indes kein Überziehen dieser Reverenz an das moderne Regietheater zu: Oberammergau - das ist Tradition, nicht Agitation. Der jetzt bereits das vierte Mal (nach 1990, 2000 und 2010) zum Passionsspielleiter gewählte Intendant des Münchner Volkstheaters hat an der Darstellung der Leidensgeschichte Jesu deutlich demonstriert, dass Tradition nicht Stillstand heißt, sondern Bewegung und Erneuerung. Dass es nicht um Festhalten und Verklammern geht, sondern um Bewahren und Aufheben. Dialektisch eben. Oberbayerisch.
Dass dies auch bei »Nabucco« grandios gelingt, ist - wie anders bei einer Oper - vor allem den Sängerinnen und Sängern zu verdanken. Hier zudem dem exzellenten Zusammenspiel eines Ensembles aus Laien und Profis. Besteht doch der das dramatische Geschehen tragende Chor von rund 200 Akteuren mehrheitlich aus Oberammergauerinnen und Oberammergauern - geschult, erfahren, gereift im Spielfeuer der Passion und der seit Jahren von Christian Stückl und seinem Team inspirierten, ins Leben gerufenen und mit Leben erfüllten Oberammergauer Theatersommer (Choreinstudierung: Markus Zwink).
Der Chor agiert mit einer Rasanz und Mobilität, die Verwunderung schaffen, dass nicht schiere Atemlosigkeit, sondern raumfüllende Präsenz die fast 3000 Zuschauer um- und befängt. Eine Präsenz, die jedes Hörstück auch zum Schaustück werden lässt. Voran, natürlich: »Va, pensiero« - »Flieg, Gedanke«.
Nur die Pyrotechnik, die in vergangenen Jahren immer wieder für feurige Furore sorgte, ist beschränkt: auf den Blitz, der - als flammender Ball emporrasend - am Ende des 2. Aktes Nebukadnezar nach dessen eigener Ausrufung zum Gott solchen Wahnwitz mit Wahnsinn vergilt. Dem Aserbaidschaner Evez Abdulla als Nabucco gelingt es als Sänger und Mime, diese am stärksten dem Wandel unterworfene Figur in einer Weise zu präsentieren, die vom hoch zu (echtem) Ross einziehenden autokratisch-mitleidlosen Usurpator über den vom Irrsinn besessenen Gefangenen im eigenen Palast bis zum religiös und ethisch geläuterten Konvertiten das Publikum in veritable Stimm-Haft nimmt.
Obwohl in der Körpergröße weitaus nicht auf solcher Höhe, steht sie an Stimmgewalt ihrem »Vater« nicht nach: Irina Rindzuner als auf den Thron geile Abigaille, die aus der Affäre mit einer Sklavin entstammende Tochter Nabuccos. Die Russin erfüllt in beispielhafter Weise »die Aufgabe, die Verdi dem Sopran stellt, aus leisem Schein bis zu mächtigem Licht das harmonische Dunkel aller anderen Stimmen zu überwachsen« (Franz Werfel). Dieses »mächtige Licht« erfährt seine höchste Steigerung, wenn Abigaille als Führerin der Putschisten, Entmachterin und Entehrerin des Vaters ihre Selbstkrönung zelebriert.
Abigailles Schwester und Konkurrentin im Liebesleben, Fenena, wird in zart-zerbrechlicher Physis und konsequent-standhafter Charakterlichkeit von der Französin Virginie Verrez eingebracht in den Kampf um die Freiheit eines Volkes, in das Ringen um die Liebe eines Mannes. Als babylonische Geisel der Hebräer und Geliebte von Ismaele, Neffe des Königs von Jerusalem (seelenvoll-überzeugend: Attilio Glaser), wird sie erbarmungslos zwischen allen Fronten umhergestoßen, um schließlich durch ihren sich besinnenden und den Insurgenten trotzenden Vater errettet zu werden vom Tod, der stattdessen die machttolle Abigaille ereilt.
Dass »Nabucco« bei allem profan-populären Gehalt von einer religiösen Dimension dominiert wird, demonstrieren die konturiert in Szene gesetzten geistlichen Antipoden: Zaccaria, Hohepriester der Hebräer, und der (namenlose) Oberpriester des Baal. Während Zaccaria (kompromisslos-beschwörend: der Rumäne Bálint Szabó) sein Volk im Namen des Einen und Einzigen Gottes, Garant des Überlebens und der Freiheit, zu einen sucht, schlägt sich der Mann Baals (skeptisch-skrupellos: Rafal Pawnuk aus Polen), durchaus weltlich-pragmatisch orientiert, auf die der Macht zugewandte Seite.
Gute Religion, schlechte Religion? Es wäre wohl verfehlt, hier mit einer solchen, an heutigen Maßstäben orientierten Interpretation von »Nabucco« anzusetzen. »Ein Operntext«, schrieb Vincenzo Bellini, Verdis Landsmann und Berufskollege als Opernkomponist, »ist dann gut, wenn er keinen rechten Sinn hat.« Folgt man diesem Diktum, fehlt es dem »Nabucco«-Libretto nicht gänzlich, aber doch gehörig - an fehlendem Sinn. Was indes in beiderlei Hinsicht eher nachrangig sein dürfte, denn Verdi - und das trifft besonders auf »Nabucco« zu - »liebte und weinte für alle Menschen«, so der Dichter Gabriele D’Annunzio in einer Ode nach dem Tod des Komponisten. Wenn von der Freiluftbühne des Passionstheaters die mächtigen Melodien (mit-)reißend über die Abhänge ihrer Kadenzen in den überwölbten Zuschauerraum stürzen, erübrigt sich ohnehin die Frage nach dem Sinn so mancher der italienischen Textzeilen, die in deutscher Übersetzung auf zwei flankierenden Monitoren verfolgt werden können.
Faszinierend indes, wie es Christian Stückl, einem virtuosen Meister der Massenszenen, gelingt, Chor und Solisten in einer Weise zu choreografieren, dass die vom europäischen Jugendorchester Neue Philharmonie München (Dirigent: Ainars Rubikis, Lettland) intensiv intonierte Dramatik in nachgerade physisch fühlbarer Form in Bewegung (oder Verharren) umgesetzt wird - ein Effekt, ohne den, wenn man ihn einmal erlebt hat, der Musik hernach etwas fehlen kann.
Sollte das Phantom der Oper, dauerhaft daheim im oberfränkischen Bayreuther Tempel des Verdi-Zeitgenossen und -Konkurrenten Richard Wagner, sich künftig auch im oberbayerischen Oberammergau einrichten? Verdis Wüstensturm jedenfalls endete mit einem Beifallssturm.
Nächste Aufführung: 17. Juli
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