Überall Baustellen im Gesundheitssektor
Linkspartei sucht zukunftsfähige Politikansätze über die medizinische Versorgung hinaus
Deutschland gibt 11,3 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Gesundheitskosten aus und belegt damit unter den OECD-Staaten den vierten Platz. Erreicht werden mit diesen relativ hohen Ausgaben aber nur mittlere bis schlechte Ergebnisse. So beträgt die Lebenserwartung knapp 81 Jahre - das entspricht dem 18. Platz unter den 34 Staaten. Bei der Kindersterblichkeit stagniert die Bundesrepublik seit 2005 mit 3,9 Sterbefällen auf 1000 Kinder unter fünf Jahren - und belegt damit nur den 20. Platz. In einem der vermeintlich besten Gesundheitssysteme weltweit sind die Chancen unterschiedlich verteilt, die Verbindung von Armut und Krankheit ist offensichtlich und widersteht bisher jeder neueren Gesetzgebung.
Soweit die Ausgangslage für die Diskussion im Berliner Karl-Liebknecht-Haus. Cornelia Heintze, freiberufliche Beraterin und frühere Krankenhausdezernentin, ging in ihrem Vortrag weiter ins Detail. Das deutsche System leide auch an einer gleichzeitigen Über- und Unterversorgung sowie am Versagen an den Schnittstellen etwa zwischen ambulanter und stationärer Versorgung.
Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass Staaten mit einem öffentlichen Gesundheitsdienst vor allem in Nordeuropa einen deutlich geringeren BIP-Anteil als Deutschland - in der Regel rund neun Prozent - für den Sektor ausgeben. Dennoch seien dort die Kliniken zum Beispiel in der Akutpflege personell wesentlich besser ausgestattet: Beim Spitzenreiter Norwegen versorgt eine Pflegefachkraft im Schnitt 5,4 Patienten, in Deutschland muss sie für 13 Kranke sorgen.
Pro 100 000 Einwohner gab es hierzulande im Jahr 2010 nur 28 neu examinierte Krankenpfleger, was in der OECD nur für Platz 28 reichte. Auf Platz zwei und drei fanden sich Dänemark und Island mit je 78 Berufsanfängern. Politologin Heintze lenkte den Blick auf die kommunalen Gesundheitszentren in Skandinavien, in denen leichte Fälle von qualifizierten Pflegekräften aufgenommen und beraten werden, oder auf die eindeutige Hausarztzentrierung in Norwegen und Dänemark.
Beate Blättner von der Hochschule Fulda zeigte, wie das gerade verabschiedete Präventionsgesetz Vorsorge auf individuelles Handeln und Eigenverantwortung verkürzt und damit soziale Ungleichheit verstärkt. Sie war nicht die einzige in der Berliner Diskussion, die auf die gesellschaftlichen Determinanten für Gesundheit verwies, darunter auf Armut als größte Bedrohung. Diese Weitung des Blickes verlange nach dem Prinzip »Health in all policies«. Demnach wären alle Gesetzgebungsverfahren und staatlichen Entscheidungen darauf zu prüfen, welche Auswirkungen sie auf die Gesundheit der Bürger haben könnten. Blättner forderte, sowohl unabhängigen Experten als auch den Betroffenen mehr Einfluss auf gesundheitspolitische Entscheidungen zu verschaffen.
Für das Ziel einer Bürgerversicherung müssten genauere Konzepte zum Übergang in das neue System erarbeitet werden, schlug Thomas Gerlinger von der Hochschule Fulda vor. Am Anfang könnten etwa Regelungen für Beamte stehen, die heute fast die Hälfte der privat Versicherten ausmachten. Außerdem könnten die privaten Krankenkassen in das System des Risikoausgleichs einbezogen werden, der derzeit den gesetzlichen Versicherungen mit vielen Schwerkranken höhere Mittel zuweist.
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