Bis ins zehnte Glied!
»Ungeheuerliche Neuigkeiten« - gesammelte Texte von Frank Schirrmacher
Am plausibelsten erschien mir das Wunder der Antizipation stets beim Fußball: Der Weltklassespieler läuft prinzipiell ins Leere - dorthin, wo der Passball erst einfliegen wird. Der Antritt aber schon, da noch gar nichts absehbar ist. Trittsicherer Lauf in die Erwartungsrichtung. Instinkt als verblüffendster Ausdruck von Intelligenz. Vor-Ahnung. Verfügt ein Intellektueller über solche Ahnung, darf sein Movens - angesichts der realen Welt - einzig die Beunruhigung, kann seine Reaktion nur die Sorge, muss seine Tat unbedingt die Warnung sein. Dies war das Feld Frank Schirrmachers, einem der FAZ-Herausgeber, der 2014 mit 54 Jahren starb.
Jakob Augstein hat unter dem Titel »Ungeheuerliche Neuigkeiten« Schirrmacher-Texte von 1990 bis 2014 herausgegeben. Knapp fünfzig Arbeiten; Rezensionen und Nachrufe, Kommentare und Essays, es gibt das Porträt, die Rede, das Interview. Keinerlei Geistes- und Sprachabfall beim Wechsel vom sorgsam bedachten Aufsatz zur tagesaktuellen Replik.
Schirrmacher blickt auf die Krisen der Gegenwart, er spürt den wachsenden Unmut in der Gesellschaft, der sich gegen veraltete Ordnungskategorien und hybride Finanzmärkte wendet. Er sieht »politische Ideen nur noch als Posten- und Interessengeschachere egoistischer Einzelner«, uns drohe ein »weltbürgerkriegsähnlicher Zustand«. Man müsse ohne Aufschub, veränderungswillig »über die Spaltung unserer Gesellschaft in diejenigen reden, die Konsequenzen erleiden, und diejenigen, die von ihnen verschont werden oder gar profitieren«. Aber er verabscheut freilich den politischen Extremismus, der die Idee der Mitte als Unmoral bekämpft. In seiner Dankesrede für den Börne-Preis spricht Schirrmacher von dem, was uns auf vielen Gebieten bevorsteht: mühsam umlernen zu müssen. Und er benennt, was uns so verheerend verdirbt: »die Erfahrung des Überflusses«.
An Brecht und Benn interessiert Schirrmacher, wie im 20. Jahrhundert »Gedankensysteme, soziale Veränderungen zu Versuchsanordnungen einer exakt protokollierten Selbsterfahrung« werden: Ideologie, ob links oder rechts, als Mittel in der Moderne, »sich selbst kennenzulernen«. Just bei Brecht verweist Schirrmacher auf den Zusammenhang von »politisierter Intelligenz« und »unheilvoller Seelenverschreibung«. Kommunismus als »Inspirationsapparatur«. Aber am Ende bei Brecht »kaum noch Illusionen über den Preis, den sein Pakt ihn kostete«. Doch »unter den lastenden Betondecken hört man in der Literatur die Stimme des Einzelnen. Zweifelnd, gefühlsmächtig noch an der Gefühllosigkeit leidend, ungeduldig und dabei oft ganz einfach und klar.« Überschrieben ist der Text: »Lob eines Kommunisten«. Lob dessen, was radikal macht - und letztlich doch in die ganz andere Radikalität führt, in die der Wahrhaftigkeit durch Poesie. Also in eine von Trauer durchtränkte Freundlichkeit.
Schirrmacher schreibt über Canetti und Adorno, über Reich-Ranicki, Lem und Hitler, über das Altern und über Fernsehfilme. Er begleitet den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz nach Verdun, findet im Gestrüpp ein Stück Leitungsdraht und kommt zu folgendem Gedanken: »Dass man jedes technische Hilfsmittel nutzt, um Informationen zu erkämpfen, miteinander zu reden, und dies alles zu dem Zweck, die anderen zu töten, ist in Verdun zum ersten Mal in einer technischen Modernität ausgeführt worden, die eine direkte Linie zu uns zieht. Netze sind neutral, sie sind per se weder friedlich noch kooperativ, sie verwandeln Organisationen nicht automatisch zum Besseren. Damit dies geschieht, braucht man Politik.«
Da ist sie par excellence, die Methode Schirrmachers: Jede Wahrnehmung wird ihm Zündfunke, ob ein Vulkanausbruch in Island oder Filmbilder von Sarrazin oder eben ein Fuzzel Draht im Dreck - dieser Journalist lebte ganz aus dem Furor einer Selbsterregung heraus, die alles berührte, um die Anfälligkeit wach zu halten. Anfälligkeit dafür, jede (jede!) Nachricht nach Denk-, also Luststoff abzuklopfen. Man ahnt in diesen Texten einen Chef, dem wohl das Recht des letzten Wortes zustand, weil er sich in der Pflicht sah, immer auch einen Gedanken mehr zu haben als andere. Er hat Zeitung offenkundig nicht geleitet, sondern gelebt. Gesundes Fieber, das befeuerte und Kräfte band wie freisetzte. Er konnte vorschreiben, weil er schreiben konnte. Er verwaltete nicht Ideen, er hatte sie. Wunderbar, nach seinen ureigenen Möglichkeiten verbraucht zu werden! König Wahnsinns Hof.
Über Politik schrieb er wie über Kunst: Gebildetsein plus Beseeltsein. Augstein erwähnt in seinem Vorwort den Trauerredner für Schirrmacher, den Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, der nennt den FAZ-Herausgeber »monoman« und »eine Gestalt des Exzesses«. Der aus allen Dimensionen der Existenz jene großartige, anstoßende, anstößige Kraft sog, »die man braucht, um ohne stabile Kriterien urteilen zu können«. Urteilen unbedingt, mit Ernst und hohem Verpflichtungsgrad - aber ohne Schraubzwinge im Hirn. Also: kein Steigen ohne Verstiegenheit, und immer darauf bedacht, die vereinsamten schwarz-weißen Wahrheiten neidisch zu machen auf die schönen Wechselfarben der vielen möglichen Irrtümer. So, als sei man im Moment, da man zu einer Wahrheit fand, plötzlich nicht mehr an dem Argument interessiert, das sie bestätigt, sondern nur noch an jenem, das sie widerlegt.
Die spannenden Phänomene der Unvereinbarkeit zwischen Leben und Erkenntnis verleihen den Texten Schirrmachers eine Aufklärungshelle, die beständig auch in jenes Unerforschliche blickt, das unserem Wahrheits- und Sittlichkeitsdrang als Gefahrenschatten eingeschrieben bleibt. Aber alles Dunkle ist begleitet von Verfeinerungen, die man Kultur nennt, also: Verwandlung von Wirklichkeit in Geist und Bild. Und das sogar im Journalismus. Was besticht, ist eine Schreibweise, die unter allen Umständen über die Fährnisse und Niedrigkeiten eines Stoffes zu siegen hat. Ohne Stil keine Wahrhaftigkeit - die immer eine des Autors ist, nicht eine des scheinbar Objektiven, von dem »nur« Bericht zu erstatten wäre. Die Angst sei Schirrmachers vornehmliches Thema gewesen, schreibt Augstein im Vorwort, aber: »Er sah die Welt bedroht und lebte selber im Genuss der Bedrohung.«
Mensch und Maschine, Politik und Markt, der Deutsche zwischen Geschichtstrauma und Zukunft. In flammendem Zorn wirft er der jetzigen Gesellschaft »Bildungsversagen« vor, dies führe dazu, »dass Menschen ein Leben lang vom Bewusstsein ihrer eigenen Inkompetenz verfolgt werden«. Schirrmacher sieht in der digitalen Revolution eine große Faszination, aber er konstatiert eine Macht-Asymmetrie des Technischen, ahnt einen »allwissenden Counterpart« zum Menschen, »und die Frage, wie diese Asymmetrie demokratisiert werden kann, ohne die Vorteile der neuen Technologien, auch von Big Data, zu verlieren - das ist die zentrale Frage der nächsten Jahre.«
Angela Merkels Satz, sie freue sich über den Tod von Osama bin Laden, wird Anlass für einen grandiosen Kommentar auf Humanismus in Zeiten terroristischer Bedrängung: »Einer Zivilisation, deren Wurzeln sich der Freude über die Geburt eines Kindes verdanken, also dem Leben, steht es schlecht an, die Freude über die Tötung des Feindes zur Konflikträson zu machen.«
Die gegen die Drohpolitik Israels gerichteten Pamphlet-Verse »Was gesagt werden muss« von Günter Grass nennt Schirrmacher »eines der perfidesten Gedichte deutscher Sprache«, überhaupt: Er kann gnadenlos scharf werden - aber ein Essayist, der keinen Streit auslöst, wäre ja nicht mehr als der Absicherungskünstler eines gerade gültigen politischen Gemeinplatzes. In der Verweigerung, Martin Walsers Roman »Tod eines Kritikers« als FAZ-Fortsetzungsroman zu drucken, und im Interview über Grass’ SS-Mitgliedschaft drückt sich indirekt das Grundgebot für den erfolgreichen Journalisten aus: Er besucht nicht Pressekonferenzen, er löst sie aus. Wo immer, ob links oder rechts oder sonst wo, antisemitische Reflexe ruchbar werden, wird Schirrmacher unversöhnlich. Weil »das Maß des Schmerzes, den Deutsche Juden zugefügt haben und der noch die Nachgeborenen im zehnten Glied verfolgen wird, zu groß ist, als dass man auch nur ein falsches Wort vertragen könnte.«
Zum Schluss sei zitiert, was der Autor 1998 sagte: »Man muss in Kauf nehmen, dass man verwandelt erwacht; es fröstelt einen zuweilen, und das Leben wird riskanter. Könnte sein, man setzt sich dabei selbst aufs Spiel. Aber: Lesen wird wieder zum Vergnügen. Und das Atmen auch.« Worte über das Werk Martin Walsers, als der in der Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. Worte, die sehr genau auch auf Frank Schirrmachers Texte selbst zutreffen. Also auf dieses Buch.
Frank Schirrmacher: Ungeheuerliche Neuigkeiten. Texte aus den Jahren 1990 bis 2014. Hrsg. und mit einem Vorwort von Jakob Augstein. Blessing Verlag München. 336 S., engl. Broschur, 16,99 Euro.
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