Gnadenloses Amazon
Der Internetriese setzt auf Größe und Expansion
Am Anfang war das Buch. Genauer gesagt der gut 500-seitige Wälzer »Fluid Concepts and Creative Analogies: Computer Models of the Fundamental Mechanisms of Thought«, in dem der US-Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter erläutert, wie das menschliche Gehirn Analogien bildet und wie solche Prozesse in einem Computerprogramm modelliert werden. Und warum Menschen zu viel in künstlich intelligente Roboter hineinprojizieren.
Zufall oder nicht - mit diesem Buch tätigte ein kleiner Internethändler am 16. Juli 1995 sein erstes Geschäft: Amazon.com. Ursprünglich wollte Gründer Jeff Bezos, ein Informatiker mit Princeton-Abschluss, sein Unternehmen ja »Relentless« (engl.: gnadenlos) nennen, was ihm Freunde ausredeten. Und der erste Firmenname »Cadabra« (wie in Abracadabra) wurde rasch geändert, weil Bezos’ Anwalt immer »Kadaver« verstand. Schließlich bediente man sich beim wasserreichsten Fluss der Welt: Der Amazonas, so das Kalkül, symbolisiert Größe und der Name beginnt mit »A« - Webseiten wurden damals noch alphabetisch aufgelistet.
Wie diese Episode zeigt, ging es nicht um eine Innovation, die mit einem treffenden Namen vermarktet werden sollte, sondern um ein neues Vermarktungsmodell. Onlinehändler schossen seiner Zeit wie Pilze aus dem Boden und Amazon wollte sich durch schiere Größe vom Rest unterscheiden. Was auch gelang: Schon in den ersten vier Wochen verschickte das Unternehmen Bücher an Kunden in allen 50 US-Bundesstaaten und 45 weiteren Ländern, im zweiten Monat lag der Wochenumsatz bei über 20 000 US-Dollar. 1997 wurde beim Jahresumsatz die 100-Millionen-Grenze geknackt, 2014 waren es 89 Milliarden Dollar.
Die Kehrseite des kräftigen Umsatzwachstums sind hohe Nettoverluste - allein im vergangenen Jahr betrugen sie 241 Millionen Dollar. Dies sorgt immer mal wieder für Konfusion unter den Aktionären. Dennoch kletterte der Kurs seit dem Börsengang 1997 von 1,73 auf aktuell 465 Dollar. Offenbar zieht Amazons Standardargument, dass Expansion eben viel kostet. Den Firmengründer Jeff Bezos, dessen Privatvermögen auf rund 35 Milliarden Dollar geschätzt wird, scheinen die Verluste nicht sonderlich zu scheren. Er äußert sich selten dazu, selbst bei Treffen mit Bankanalysten schickt er seinen Finanzvorstand. Vielleicht, weil einer seiner Wahlsprüche lautet: »Das Leben ist zu kurz, um Zeit mit Menschen zu verbringen, die keine eigenen Ideen haben.«
Dem 51-Jährigen gehen diese bis heute nicht aus. Zwar startete man mit Büchern - nicht weil diese als ein besonderes Kulturgut gelten, sondern weil sie kompakt sind, sich platzsparend und lange lagern lassen sowie eine gute Gewinnmarge versprechen. Aber rasch verkaufte Amazon auch CDs und Elektronik. Heute gibt es fast nichts, was man dort nicht bekommt. In den USA kann man sich über AmazonFresh sogar mit frischen Lebensmitteln eindecken. Ansonsten hat der Konzern mit rund 165 000 Beschäftigten mittlerweile auch einen Videostreamingdienst mit eigenen Serienproduktionen, eigene E-Book-Reader und Smartphones, betreibt eine Art Amateur-Stiftung-Warentest und ist ganz nebenbei mit Amazon Web Services auch der weltgrößte Vermieter von Computerleistung. Bezos persönlich hat die »Washington Post« gekauft und arbeitet in seiner Firma Blue Origin auch an der Entwicklung wiederverwendbarer Raumschiffe.
Amazons Expansion ist natürlich auch auf ruppige Methoden zurückzuführen. Gegenüber Beschäftigten, die schlecht bezahlt und mit der Möglichkeit der totalen Überwachung konfrontiert sind. Gegenüber Staaten und Steuerzahlern, wie die Wikileaks-Affäre in Luxemburg zutage gefördert hat. Und gegenüber Zulieferern, wozu etwa die Buchverlage degradiert wurden. Der Konzern sieht sich dagegen als Kämpfer für seine Kunden, denen er günstige Preise und bequemes Einkaufen vom häuslichen Sofa aus ermöglichen möchte. Die Wünsche liest Amazon den Kunden quasi von den Computern ab. Als Sammler riesiger Datenmengen empfiehlt man den Nutzern Produkte, die zu ihnen gemäß den verwendeten Algorithmen passen. Und Benutzer von Amazons E-Book-Reader geben sogar Vorlieben und Leseverhalten im Detail preis. Am Ende, meinen Pessimisten, bestünde das Buchangebot nurmehr aus einem Einheitsbrei des Gefälligen. Trotz des Wissens waren die Versuche des Konzerns, selbst Bücher zu verlegen, wenig erfolgreich.
Dennoch: Amazon sieht sich wie eine eigene Welt, in der Wettbewerber eigentlich überflüssig sind. Auch von der Internetgemeinde im Silicon Valley setzt man sich ab - weit weg in Seattle hat Amazon seinen Sitz. Das Selbstbewusstsein ist ungebrochen. So möchte man mit Drohnen auch noch die Auslieferung selbst übernehmen. Und zum 20. Jahrestag etabliert man einen eigenen internationalen Feiertag: den »Prime Day« mit Sonderangeboten für seine Premiumkunden.
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