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Der Meister des unausweichlichen Rests

Mit E. L. Doctorow ist einer der großen US-amerikanischen Erzähler gestorben

Seine Romane haben den Leser nach den ersten Sätzen nicht losgelassen. Jetzt ist der US-amerikanische Erzähler E.L. Doctorow im Alter von 84 Jahren gestorben. Damit verlor die Literatur einen der ganz Großen.

Es gibt Romane, die lassen einen nach dem ersten Satz nicht mehr los, egal, wie oft man sie zwischendurch liegen lassen muss. Nicht bis man sie zu Ende gelesen hat, und danach erst recht nicht. Die Verfasser solcher Romane der Gegenwart erzählen meist konventionell, aber entwickeln eine einzigartige Sprache. Sie schreiben mit großer Kunst, aber kein bisschen gekünstelt. Sie treten uneitel hinter ihre Geschichten zurück, die, egal zu welcher Zeit angesiedelt und aus welcher Perspektive erzählt, mitreißend und klug, ernst und komisch zugleich sind.

Der englische Sprachraum ist reich gesegnet mit solchen Autoren. Am Dienstag verlor er einen ihrer ganz Großen. E. L. Doctorow starb im Alter von 84 Jahren in New York an den Folgen einer Krebserkrankung.

»Der erste Satz heißt: ›Ich bin Homer, der blinde Bruder.‹ Der Rest ist dann unausweichlich«, sagte Doctorow in einem Interview mit der »Zeit« über seinen Roman »Homer & Langley«, der zu seinem 80. Geburtstag erschienen war. Doctorow beschreibt darin die Geschichte der legendären Collyer-Brüder, auf die die US-Medien in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aufmerksam wurden, da sie sozial isoliert und geächtet ohne Wasser, Strom und Gas in einem bis unter die Decke mit allem möglichen Kram vollgestopften ehemals großbürgerlichen Haus lebten. Auf tragische Weise fielen sie letztlich ihrem Messie-Syndrom, wie man heute sagen würde, zum Opfer.

Tatsächlich ist nichts nach dem ersten Satz unausweichlich, sondern typisch Doctorow. Auf der Grundlage von historischen Zeitungsartikeln formt er die fiktiven Aufzeichnungen des einen Bruders. Homer, ein blinder Musiker, wird darin von seinem Bruder auf eine absurde Diät gesetzt, weil dieser sich davon die Rückkehr von Homers Sehkraft erhofft. Langley, ein vom Ersten Weltkrieg gezeichneter Tüftler und Freak, sammelt im Roman alle in New York erscheinenden Zeitungen, um daraus ein immergültige Metaausgabe zuextrahieren, die allem möglichen Weltgeschehen Rechnung trägt. Stets sind die Projekte der Brüder zum Scheitern verurteilt, auch was ihnen selbst gelingt, richtet früher oder später die Gesellschaft zugrunde und hinterlässt seine Spuren. Anders als die Medien seinerzeit stürzt sich Doctorow nicht auf die Gerüchte um die Brüder und ihr grausam-boulevardeskes Ende in einem Labyrinth aus selbst angehäuftem Unrat. Stattdessen ist sein Roman die Geschichte zweier entzückender Käuze, die einander liebevoll zugetan sind und Marotten entwickeln wie ein altes Ehepaar, eingebettet in Geschehen und Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Doctorows Werke gelten als historische Romane, obwohl man sie anders wahrnimmt, weil das Zeitgeschehen darin eine so große Rolle spielt. Die Leserin rennt in »Weltausstellung« mit dem aufgeregten kleinen Jungen durch New York, um einen Blick auf den Zeppelin »Hindenburg« zu erhaschen, kämpft in »Ragtime« mit dem afro-amerikanischen Musiker gegen Rassismus und leidet in »Das Buch von Daniel« unter der unrechtmäßigen Hinrichtung des jüdischen Ehepaars Rosenberg.

Edgar Lawrence Doctorow, Enkel russisch-jüdischer Einwohner, wuchs in der Bronx auf, wo sein Vater einen kleinen Musikladen betrieb. Nach der anfänglichen Tätigkeit als Lektor lebte Doctorow gut viereinhalb Jahrzehnte als Schriftsteller. Er hinterlässt ein Dutzend Romane, viele Erzählungen und Essays. Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, einige von ihnen verfilmt.

»Ich habe mein Augenlicht nicht auf einmal verloren, es war, wie im Kino, ein langsames Ausblenden«, heißt es weiter in »Homer & Langley«. »So ist Schreiben: Sätze generieren andere Sätze. Sie müssen das Buch leben und atmen lassen. Das Buch sagt Ihnen, was es möchte«, so Doctorow. Das klingt ziemlich einfach, ist aber in seinem Fall unnachahmlich. Über den »alten Roosevelt-Demokraten« - so bezeichnete er sich selbst - schrieb US-Präsident Barack Obama auf Twitter: »E. L. Doctorow war einer der wichtigsten Schriftsteller Amerikas. Seine Bücher lehrten mich viel, und er wird uns fehlen.« Es kann sich glücklich schätzen, wer die Lektüre seiner Werke noch vor sich hat.

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