Justizminister Maas fordert besseren Schutz für Asylbewerber

Über 8100 Ausweisungen im ersten Halbjahr 2015 - Anstieg um 42 Prozent / Landespolitiker fordern weiter mehr Hilfe vom Bund bei Unterbringung von Flüchtlingen / Polizei-Schüsse auf Asylbewerber in Bonn

  • Lesedauer: 6 Min.

Update 14.20 Uhr: Bei der Unterbringung von Flüchtlingen spitzt sich die problematische Lage immer mehr zu. Angesichts zunehmender Übergriffe mutmaßlicher Rechtsextremisten forderte Justizminister Heiko Maas (SPD) am Wochenende einen besseren Schutz der Asylbewerber. Bund und Kommunen appellierten an die Länder, mehr Sozialwohnungen zu bauen. Flüchtlingshelfer kritisierten unzureichende Zustände in Aufnahmeeinrichtungen, die auch Nährboden für soziale Konflikte seien.

In Suhl in Thüringen und in der für Flüchtlinge eingerichteten Zeltstadt in Dresden-Friedrichstadt kam es am Wochenende zu gewaltsamen Auseinandersetzungen unter Bewohnern. Mehrere Menschen wurden verletzt. »Die Nerven liegen blank, auch weil viele geflüchtete Menschen nicht wissen, was mit ihnen passiert«, erklärte ein Sprecher des Netzwerkes »Dresden für Alle«. Außerdem sei die Grundversorgung der Bewohner nicht gewährleistet. Auch auf kulturelle Unterschiede werde kaum Rücksicht genommen. Das Lager war in den vergangenen Tagen zudem wiederholt Ziel rechtsextremer Demonstrationen und Attacken.

Justizminister Maas forderte einen besseren Schutz der Flüchtlinge und nahm auch die Bürger in die Pflicht. Jede Attacke auf ein Flüchtlingsheim sei ein Angriff auf die Gesellschaft und auf die freiheitliche Grundordnung, betont er in einem Gastbeitrag für das »RedaktionsNetzwerk Deutschland«. »Wir dürfen weder den geistigen noch den tatsächlichen Brandstiftern das Feld überlassen.«

Die Übergriffe auf Flüchtlingsheime haben dem »Spiegel« zufolge deutlich zugenommen. Allein von Jahresbeginn bis zum 6. Juli seien bundesweit 199 Übergriffe gezählt worden, meldete das Magazin in seiner aktuellen Ausgabe unter Berufung auf Angaben des Bundeskriminalamtes.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), kritisierte die Angriffe als menschenverachtend. Sie sei darüber hinaus entsetzt gewesen, dass Mitarbeiter des Roten Kreuzes mit Steinen beworfen wurden, sagte Özoguz im Deutschlandfunk-Interview am Sonntag. »Das passiert denen nicht einmal in Kriegsgebieten.«

Zahl der Abschiebungen deutlich gestiegen

Die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland ist zuletzt stark gestiegen. Im ersten Halbjahr 2015 seien 8.178 abgelehnte Asylbewerber abgeschoben worden, berichtete die Zeitung »Welt am Sonntag« aus Berlin unter Berufung auf das Bundesinnenministerium. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sei dies ein Anstieg um 42 Prozent. »Freiwillig« kehrten demnach bis Ende Juni mehr als 12.600 Menschen in ihre Herkunftsländer zurück. Davon stammten 85 Prozent aus den Staaten des westlichen Balkans.

Vor kurzem waren Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien per Asylgesetz zu sicheren Herkunftsländern erklärt worden. Dies wird angesichts der weiter steigenden Asylbewerberzahlen aus der Region seit längerem auch für Albanien, das Kosovo und Montenegro gefordert - allerdings ist der Ruf danach höchst umstritten. Antragsteller aus diesen Staaten erhalten nach Angaben der Bundesregierung praktisch niemals Asyl.

Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewentz (SPD), sagte nun der »Welt am Sonntag«: »Wenn ein Asylantrag abgelehnt ist, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen in ihre Heimat zurückkehren.« Oftmals geschehe dies freiwillig. Ansonsten müssten die Behörden »auch mit Druck auf eine Ausreise hinwirken«, sagte der rheinland-pfälzische Innenminister.

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir forderte derweil eine Beschleunigung der Asylverfahren in Deutschland. »Ein Verfahren kann nicht sieben oder acht Monate dauern, das muss nach drei Monaten abgeschlossen sein, damit auch die Leute selber wissen, was mit ihnen ist, ob sie hierbleiben, ob sie zurückgehen müssen«, sagte Özdemir im ZDF-»Sommerinterview«. Er forderte auch Hilfe für die Kommunen bei der Bewältigung der stark wachsenden Flüchtlingszahlen.

Gleichzeitig müsse man über Fluchtursachen reden. »Da sind wir nicht nur Zuschauer«, so Özdemir. »Natürlich können wir nicht alle Probleme der Welt lösen, aber im westlichen Balkan, da könnten wir wirklich Einfluss nehmen. Wir tun's nicht.«

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius verlangte unterdessen ein Moratorium für alle Gesetze, die die Beschaffung von Unterkünften für Flüchtlinge erschweren. »Ich bin gerade dabei, eine Liste mit Bundes- und Landesgesetzen vorzubereiten, die uns bei der Bewältigung dieser Herausforderung behindern oder zu viel Zeit kosten«, sagte der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur in Hannover. Dazu zählten das Vergaberecht, Vorschriften für die energetische Sanierung von Bestandsgebäuden und das Baurecht - all die »Auflagen also, die man erfüllen muss, um ein bestehendes Gebäude neu zu nutzen.« Wie Pistorius die Forderung nach der Sommerpause auf Bundesebene durchsetzen will, ist noch offen. »Ob als Bundesratsinitiative oder in Form eines Artikelgesetztes über den Bundestag, das müssen wir sehen«, sagte er. Entscheidend sei am Ende nur, das im Dezember keine Flüchtlinge mehr in Zelten untergebracht werden müssten.

Auch mit Blick auf die vorhandenen Probleme bei der Finanzierung fordert Pistorius mehr Tempo und Geschlossenheit: »Heute ist Flüchtlingspolitik eine gesamtstaatliche, eine nationale Aufgabe.« Der Bund müsse sich spürbar und dynamisch beteiligen. Nicht mit einem Einmalbetrag, sondern strukturell an den laufenden Kosten und so, dass mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen auch der Anteil des Bundes steige. »Aus dieser Verantwortung kommt der Bund auch nicht heraus.«

Dem schloss sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow an. »Der Bund drückt sich dadurch vor seiner Verantwortung und wälzt die Probleme auf Länder und Kommunen ab.« Der Linke-Politiker kritisierte auch die seiner Meinung nach zu geringe Beteiligung des Bundes an den Unterbringungs-, Betreuungs- und Integrationskosten. »Eine Milliarde Euro, von der die Länder auch noch die Hälfte an den Bund zurückzahlen müssen, ist viel zu wenig.«

Nordrhein-Westfalen mobilisiert inzwischen pensionierte Beamte, um die steigenden Flüchtlingszahlen zu bewältigen. Wie Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) der Deutschen Presse-Agentur in Düsseldorf sagte, haben sich bereits 150 Pensionäre aus dem Bereich des Innenministeriums gemeldet. »Da ist schon eine große Hilfsbereitschaft erkennbar.« Nach den Polizeibeamten würden nun auch ehemalige Lehrer und anschließend weitere Pensionäre angeschrieben, kündigte die Regierungschefin an. Pensionäre können eingesetzt werden, um Neuankömmlinge in Erstaufnahme-Einrichtungen des Landes zu registrieren. Für die Aufgabe sollen sie bezahlt werden. Derzeit kommen rund 1000 Flüchtlinge täglich nach NRW - 90 000 werden in diesem Jahr erwartet.

Bei einem Polizeieinsatz in einem Flüchtlingsheim in Bonn ist ein junger Mann am Samstagabend schwer verletzt worden. Wie ein Sprecher der Polizei Bonn der Nachrichtenagentur AFP sagte, ging dem Einsatz ein Streit des 23-Jährigen mit einem Mitbewohner voraus. Dabei habe der aus Guinea stammende Mann sein 27-jähriges Gegenüber mit einem Messer verletzt. Ein Sondereinsatzkommando wrude herbeigerufen, als der Mann aus dem Gebäude sprang und mit zwei Messern bewaffnet fliehen wollte, eröffneten die Beamten das Feuer. Die Beamten hätten versucht, mit dem 23-Jährigen zu verhandeln, der sich in einem Küchenraum verschanzt hatte. Der Mann wurde in ein Bonner Krankenhaus gebracht. Nach Angaben des Polizeisprechers war sein Zustand stabil. Für die Bewohner der Flüchtlingsunterkunft wurden Notfallseelsorger eingesetzt. Der genaue Tathergang und die Gründe, warum es zu den Schüssen auf den 23-Jährigen kam, sind nun Gegenstand interner Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Agenturen/nd

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