Zu viel Strom für zu wenige Netze

Wenn die Sonne scheint, boomt die Solarkraft. Doch die Leitungen sind überlastet

  • Tim Braune
  • Lesedauer: 3 Min.
Europas Stromnetze arbeiten am Rande ihrer Kapazität. Auch weil Trassen von Nord nach Süd fehlen, rechnen Experten mit einer halben Milliarde Euro für Notmaßnahmen - am Ende zahlt der Stromkunde.

Auf der großen Europakarte, wo jeder im Internet schauen kann, ob bei der Stromversorgung alles glatt läuft, blinkt in Polen die Ampel rot. Die Rekordhitze macht dem östlichen Nachbarn schwer zu schaffen. Die extrem niedrigen Wasserstände der Flüsse und Stauseen haben Folgen für Kraftwerke und Unternehmen. Die Stromeinspeisung wurde Anfang der Woche nach Angaben der Betreiberfirma PSE für Firmenkunden gedrosselt. Etwa 1600 Unternehmen des Landes erhalten demnach derzeit weniger Strom. Auch Privathaushalte wurden aufgefordert, nach Möglichkeit Energie zu sparen.

Kohlekraftwerke müssen abgeschaltet werden, weil große Flüsse wie die Weichsel zu wenig Wasser zum Kühlen führen. Fabriken drosseln die Produktion, der schwedische Möbelhändler Ikea fährt in polnischen Filialen Klimaanlagen und Licht herunter, um Strom zu sparen. Auch werden weniger Köttbullar gekocht.

Die Probleme in Polen sind ein Grund dafür, dass die Sommerhitze die Kosten der Energiewende um zweistellige Millionenbeträge in die Höhe treibt - das müssen am Ende alle Stromkunden bezahlen. Auch die sehr hohe Produktion von Sonnenstrom aus Photovoltaikanlagen im Norden und viele Ökostromexporte nach Südosteuropa, die über polnische Leitungen laufen, verstopfen gerade die vorhandenen Leitungen im bundesdeutschen Stromnetz und sorgen so für hohe Kosten. In Nordostdeutschland musste die Produktion konventioneller Kraftwerke teils drastisch verringert werden, weil der Sonnenstrom Vorrang hat. Deren Betreiber werden vom Staat entschädigt, was die Verbraucher über die Netzentgelte mit der Stromrechnung zahlen. Diese Eingriffe nennt man »Redispatch«, weil der in der Branche Dispatch genannte Fahrplan der Kraftwerke verändert wird.

»Wir geben seit der Hitzewelle jeden Tag grob 2,5 Millionen Euro aus für grenzüberschreitende Eingriffe mit unseren Nachbarn, um das Netz stabil zu halten«, sagte der Geschäftsführer Systembetrieb beim großen Netzbetreiber 50Hertz, Dirk Biermann, am Sonntag. »Über den Daumen hat uns die Hitzewelle bisher schon 25 Millionen Euro gekostet.« 50Hertz versorgt rund 18 Millionen Haushalte im Norden und Osten Deutschlands.

Am Freitag beliefen sich bei 50Hertz die Eingriffe ins Netz zeitweise auf 5745 Megawatt - das entspricht rechnerisch etwa der Leistung von vier AKW. 2015 erwartet Biermann im bundesweiten Stromnetz Kosten von bis zu 500 Millionen Euro für Notmaßnahmen, um Blackouts zu verhindern. Denn die geplanten Nord-Süd-Stromautobahnen fehlen weiter: »Das wird ein sehr, sehr teures Jahr für Netzeingriffe gewesen sein.«

Biermann lobt zwar, dass die Koalition sich nach langem Streit mit Bayern auf den Bau großer Gleichstromtrassen nach Süden geeinigt hatten. »Aber wir werden noch ein paar Jahre ohne sie auskommen müssen«. Umso wichtiger seien Netzausbauprojekte wie die Thüringer Strombrücke oder die Uckermarkleitung.

Die Problematik mit sehr viel Sonnenstrom und Netzengpässen ist für 50Hertz einigermaßen neu. Denn eigentlich geht es im Nordosten vor allem im Herbst und im Winter hoch her. In den kalten, stürmischen Monaten speisen die Windräder an den Küsten viel Strom ein, während in den Fabriken im Süden Deutschlands noch mehr Energie gebraucht wird. Weil große Nord-Süd-Stromautobahnen fehlen, müssen Windräder im Norden abgeschaltet, die Erzeugung im Süden aber hochgefahren werden - sonst droht der Blackout.

Sollte die Herbst-Winter-Periode wieder turbulent werden, erwartet Biermann bei den Netzeingriffen eine Kostenlawine. Allein bei 50Hertz rechnet man für 2015 mit Redispatch-Ausgaben von 250 Millionen Euro oder mehr - 2014 waren es 90 Millionen. Auch die Netzbetreiber Tennet, Amprion und TransnetBW verzeichnen hohe Kosten. Biermann warnt: »Das könnte sich auf eine halbe Milliarde jährlich summieren, weil das Netz nicht adäquat ausgebaut ist. Die Physik lässt sich nicht überlisten.« dpa/nd

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