Hauptsache sexy
Im liberalen Kapitalismus gelten Körper und Geist als schön, wenn sie marktgängig sind
Ein Nachbar hörte zwar den Schuss, dachte sich aber nichts weiter. Erst am nächsten Tag fand ein Bediensteter den sterbenden Mann, der sich am Vorabend eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Selbstmord aus Kummer um eine Liebe, die unerfüllt blieb, weil die Schranken der Ständegesellschaft es so wollten. Zum Bürger degradiert, hatte Werther im Werben um Lotte gegen den adligen Albert keine Chance. Als letzten Ausdruck des Protests gegen die Unfreiheit der Liebe ließ Goethe in seinem berühmten Briefroman seinen Protagonisten ein aufgeschlagenes Exemplar von »Emilia Galotti« auf dem Schreibtisch neben dem Sterbebett platzieren. Auch in Lessings bürgerlichem Trauerspiel geht es um absolutistische Willkür.
»Emilia Galotti« erschien 1772, der »Werther« 1774. Und 1775 wurde eine Frau geboren, die in ihrem Werk ebendieses Gemeinwesen scharf kritisieren sollte: In Romanen wie »Stolz und Vorurteil« oder »Emma« verarbeitete Jane Austen ihre Beobachtungsgabe stilistisch perfekt in einer genauen Beschreibung der Lage lediger junger Frauen des gehobenen Bürgertums. Wichtigstes Kriterium der fremdbestimmten Wahl des Lebenspartners war damals dessen Charakter, der definiert war als vergegenständlichte Version der im eigenen sozialen Umfeld geltenden Werte.
Hat der Kapitalismus die Liebe verschlungen? Zeigt er uns das wahre Wesen der romantischen Illusion von zwischenmenschlicher Nähe? Volontärinnen und Volontäre des »nd« machen sich im weiten Feld der Liebe auf die Suche nach dem Kern dieses unordentlichen Gefühls. Mehr: dasND.de/liebe
Folge 1: Hauptsache sexy
Heute erscheint das anders: Nicht mehr Regeln, Zwänge und Gewohnheiten eines sozialen Standes oder einer sozialen Klasse sind entscheidend in der Liebe, sondern die Gefühle und Begehrlichkeiten der Einzelnen. Woran sich die Menschen unter diesen Bedingungen orientieren, das weiß Eun-Jeung Lee. Die Professorin für Koreastudien an der FU Berlin empfängt in ihrem ausnehmend freundlich eingerichteten Büro zum Gespräch. Schräg gegenüber der sorgfältig geordneten Bücherwand hängt über der bequemen Sofaecke ein in eleganter Schwarz-Weiß-Ästhetik gehaltenes Männerporträt.
Lee möchte vor allem über Lookismus reden, denn den sieht sie auf dem Vormarsch. Unter Lookismus versteht sie »die Stereotypisierung und Diskriminierung eines Menschen aufgrund des Aussehens«. Im März 2015 erschien in der linksakademischen Fachzeitschrift »Prokla« ein Artikel von ihr mit dem Titel »Schönheit ist Macht«. »Darin«, sagt die Kulturwissenschaftlerin mit für das ernste Thema auffallend jovialem Duktus, »erkläre ich, dass in Südkorea die äußere Schönheit zur Norm geworden ist, die sich im Liebes- und im Arbeitsleben immer stärker ausbreitet«.
Eines der üblichsten familiären Geschenke zum Universitätsabschluss sei beispielsweise die Finanzierung einer Schönheitsoperation. »Es gibt einen Boom in der plastischen Gesichtschirurgie«, so Lee. Immer mehr Menschen wollen ihre Augenlider und Wangenknochen so verändern lassen, dass ihr Antlitz »westlicher« daherkomme. Seit der Demokratisierung des Landes 1987 sei eine starke Orientierung an den USA festzustellen, und der Anschluss an die globalisierte Wirtschaft habe den Arbeitsmarkt in Turbulenzen versetzt. »Es herrscht ein umfassendes Konkurrenzprinzip, auch unter den Hochqualifizierten«, bekundet Eun-Jeung Lee.
Wer es sich leisten könne, lege sich daher unters Messer, denn tatsächlich beurteilen viele Arbeitgeber trotz eines mittlerweile in Kraft getretenen Antidiskriminierungsgesetzes ihre Bewerber hauptsächlich nach dem äußeren Erscheinungsbild. »Da ist es kein Wunder«, fährt Lee in bedächtigem Ton, aber auch mit zunehmend innere Unruhe offenbarendem Hin- und Herrücken fort, »dass Eltern schon frühzeitig beginnen, für die kosmetischen Eingriffe ihrer Kinder zu sparen«. Natürlich erfolge die Partnerwahl bei vielen Menschen unweigerlich nach denselben oberflächlichen Kriterien, schließlich müssen auch die Lebensgefährten vorzeigbar sein.
Was sich in Südkorea beobachten lässt, ist auch in Europa ein Problem. Im Fernsehen feiern »Makeover-Shows« fröhliche Urständ, die das Aussehen oder das Gewicht von Menschen als nicht marktgängig abstempeln und sie zu uniformieren trachten. In »The Biggest Loser« (Sat.1) müssen etwa Teilnehmer ihr Gewicht so reduzieren, dass am Ende für die eigene Gruppe ein auf der Waage zählbarer Vorteil entsteht. »The Swan« (Pro 7) richtete sich dagegen an weiße Mittelklassefrauen, die vom Facelifting über Umstyling bis zur Zahnbleiche runderneuert wurden. Und wie in »Germanys Next Topmodel« (Pro 7) junge Frauen von Branchenstreberin Heidi Klum gedemütigt werden, bietet alljährlich beim Staffelstart neuen Anlass zu Kritik.
Sind die Menschen also letztlich einfach oberflächlich? Ein Blick auf die Geschichte der Schönheit seit dem 20. Jahrhundert zeigt zumindest, dass es mit der Liebe nicht so leicht ist, wie es Soziobiologen mit ihren verkürzten »Jäger und Sammler«-Theorien gerne nahelegen. 1910 forderte der einflussreiche italienische Faschist Filippo Marinetti in seinem »Manifest der futuristischen Literatur«, der Mondschein müsse als nutzloses poetisches Gerümpel umgebracht werden. Für ihn war »ein Rennwagen schöner als die Nike von Samothrake«. In den nächsten Jahren setzte sich in der europäischen Kunst eine Verherrlichung des Gegenstands durch; Maschinen und vor allem Autos erhielten Formen, die nicht mehr von ihrer Funktion herrührten, sondern selbige vielmehr ästhetisch gefälliger machen sollten.
Parallel vollzog sich im Romantischen ein Wandel, den die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch »Warum Liebe weh tut« als »große Transformation der Liebe« bezeichnet. Zum einen werde die Partnerwahl nicht mehr durch die Familie übernommen. Vielmehr füge sie sich heute in das System der Massenmedien. Außerdem steige die Bedeutung der Sexualität im Wettbewerb auf dem Heiratsmarkt immer stärker an. Genau hier macht die Sozialwissenschaftlerin die entscheidende, durch den westlichen Kapitalismus bedingte Innovation aus: Die neue Kategorie der »Sexyness« verabsolutierte die Anforderung äußerer Normschönheit.
Zuvor sei Schönheit nur dann relevant gewesen, wenn sie die »richtige« soziale Herkunft und den »korrekten« moralischen Charakter zum Ausdruck gebracht habe. Kosmetik sei der viktorianischen Moral zuwider gewesen. Erst, nachdem Parfüms, Schminke, Puder, Sprays und Cremes die schrittweise entstehenden Massenverbrauchermärkte ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend überschwemmten, trennte die aufstrebende Werbeindustrie die Schönheit vom Charakter, wie Illouz herausfand: »In eine Zielscheibe der Industrie verwandelt, wurde der Körper ästhetisiert, ein Prozess, der sich dadurch beschleunigte, dass die Kosmetikbranche quer durch alle sozialen Klassen mit der Mode- und Filmindustrie zusammenarbeitete.«
Von den Menschen werde seither verlangt, die Geschlechtsunterschiede alltäglich zur Schau zu stellen über »eine Reihe bewusst gehandhabter körperlicher, sprachlicher und kleidungsbezogener Codes, die darauf ausgerichtet sind, sexuelles Begehren auszulösen«. Als wichtigstes Auswahlkriterium gelte gerade nicht mehr die Schönheit, sondern ein Auftreten und ein Lebensstil, die das Sexuelle stark betonen.
Die erste in diesem Sinne industriell erzeugte Schönheit war Marilyn Monroe (1926-1962). Unter ihrem Künstlernamen wurde die Schauspielerin derart fremdbestimmt als Sexsymbol vermarktet und dabei auf ihre das Weibliche, das Laszive und das Erfolgreiche betonende Sexyness reduziert, dass sie als Mensch daran schließlich zugrunde ging und sehr jung verstarb.
Hinter diesem Wandel steht für Illouz die ursprünglich ebenso emanzipatorische wie romantische Hoffnung, die »wahre Liebe« zu finden und zugleich ein sicheres Leben zu führen, denn die Kultivierung der Sexyness ermöglichte es vor allem Frauen, auf dem Weg der freien Partnerwahl sozial aufzusteigen.
Über die Konsequenzen dieses »Eindringens der Ökonomie in die Maschine des Begehrens« hat wiederum kaum jemand derart kluge Gedanken geäußert wie der Schriftsteller Sven Hillenkamp. In seinem Buch »Das Ende der Liebe« schreibt er, warum »Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit« zu unendlichem Liebesleid führen müssen.
Er beobachtet, dass sich immer weniger Menschen langfristig an einen Partner binden und das »Warten auf den Richtigen oder die Richtige« sich zu einer psychisch belastenden Obsession entwickelt hat. Ursächlich dafür sei die kapitalistische Romantisierung aller Lebensbereiche. So suchen die Menschen in der Vielzahl ihrer Optionen »nach dem Objekt, das keinen Verzicht auf die Unendlichkeit bedeutet, nicht bloß Perfektion, sondern die Summe alles Perfekten. Vielmehr: das Gegenteil des Perfekten - denn Perfektion ist ja Vollendung. Die Menschen suchen eine Unendlichkeit von Vollendungen.«
Sie vertrauen also nicht mehr darauf, mit jemandem alt zu werden, sondern verlangen vom Anderen, dass er seine Freiheit nutzt und unabhängig von einem einzelnen Menschen lebt. Liebe als ewige Partnerschaft wird dabei zur Utopie, weil eine Verbindung zweier nach dem Unendlichen strebenden Vollständigkeiten zwangsläufig Beziehungen zum permanenten Provisorium entwertet: »Die Menschen tragen in allem die Verantwortung selbst. Sie müssen ihr Leben selbst unter Kontrolle bekommen. Daher soll die Liebe eine Zweckliebe sein. Die Menschen lieben die Zwecke mehr, als sie die Liebe lieben. Sie lieben ihre Projekte, ihre Lebensziele mehr als das Gefühl, das alle Ziele gefährdet, alle Pläne durchkreuzt.«
Schönheit und Liebe als Sinnbild des schnellen, konsumierbaren, augenblicklichen Glanzes, das ist eine Perspektive, gegen die schon Marcel Proust zu Beginn des 20. Jahrhunderts angeschrieben hatte, als die Eroberung der menschlichen Bedürfnisstrukturen durch die Sexyness sich bestenfalls andeutete. Für Proust war das Schöne »ein stilles Nachleuchten, ein Phänomen des Erinnerns und Wiedererkennens«.
In pervertierter Form sieht Eun-Jeung Lee dieses Schönheitsverständnis in Südkorea allmählich zurückkehren. Sie ist überzeugt, dass sich mit dem rasanten Wirtschaftswachstum dort seit den neunziger Jahren auch die Bedürfnisse dramatisch verändert haben. Als die gebürtige Südkoreanerin erläutert, woran sie das fest macht, rückt sie ihre modische Brille zurecht, atmet tief durch und beugt sich nach vorne: »Seit Jahren generieren im südkoreanischen Fernsehen solche Serien besonders hohe Einschaltquoten, die eine Sehnsucht nach den guten alten Zeiten ausdrücken, als alles noch nicht so schnell war und noch nicht von jedem erwartet wurde, in jeder Lebenssituation als rundum marktfähiges Wesen zu funktionieren.«
Eine nüchterne Sicht der Wissenschaftlerin, die offenbart, dass sich in den Menschen als Möglichkeit, das Liebesleid zu beenden, ernsthaft die Sehnsucht nach vordemokratischen Zeiten regt. Letztlich ist es eine Sicht, die deutlich zeigt, wie schlecht es wirklich stehen muss um die Liebe in Zeiten des Kapitalismus.
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