»Deep Sea« muss weichen
Ein von der EU finanziertes Straßenprojekt vertreibt informelle Siedler in Nairobi
»Deep Sea«, also Tiefsee, ist der Name einer kleinen, informellen Siedlung in einer der wohlhabenden Gegenden von Kenias Hauptstadt Nairobi. Der schmale Streifen Wellblechhäuser ist umringt von Luxusapartments und Bürogebäuden; einige Hundert Meter entfernt liegt die Österreichische Botschaft. Immer weiter eingegrenzt wurde die Siedlung vom kenianischen Wohnungsmarktboom; noch unfertige Apartmentblocks und ein Fünf-Sterne-Hotel ragen direkt hinter den Hütten hervor.
»Deep Sea« liegt zudem auf einem Gebiet, das offiziell als »fehlende Verbindungsstraße« bezeichnet wird. Im Rahmen von Infrastrukturinvestitionen, die als Entwicklungshilfe gelten, finanziert die Europäische Union in Partnerschaft mit der kenianischen Regierung den Straßenbau. Dies bedeutet die Vernichtung eines Großteils der Siedlung.
EU-Richtlinien sehen vor, dass Betroffene teilnehmend in deren Umsiedlung einbezogen werden. Hierfür ist die kenianische Straßenbaubehörde verantwortlich. Deren Beamte jedoch, so klagen Anwohner, hätten sie lediglich vor vollendete Tatsachen gestellt. 5000 Kenia-Schilling (44 Euro) sollen Bauwerkbesitzer erhalten, also jene, die eine Hütte dort selbst errichtet haben. Mieter dagegen würden mit 15 000 Kenia-Schilling (132 Euro) kompensiert werden.
Evanson Githoge ist einer der Anwohner »Deep Seas«. Als Straßenkind kam er dort im Jahre 1984 an und baute mit seinen eigenen Händen eine Bleibe. »Damals war der Großteil der Gegend noch Gestrüpp«, sagt er, »niemand hat das Land genutzt, so haben wir dort eine Gemeinde geschaffen.«
Heute lebt Evanson dort mit seiner Frau und den Kindern, von denen zwei bereits in der Sekundarschule sind. Er selbst arbeitet als Bauarbeiter und ist deshalb nicht gegen Infrastrukturentwicklung, wie viele andere fragt er sich aber, für wen diese Entwicklung ist. »Viele hier teilen meine Geschichte, sagt er, sie kommen aus armen Verhältnissen und haben sich hier über Jahrzehnte eine Lebensgrundlage erschaffen. Die sogenannte Kompensation verdammt uns zurück auf die Straße und in absolute Armut.«
Und so schlossen sich »Deep Sea«- Anwohner zusammen und engagierten einen Anwalt, um gegen die Straßenbaubehörde zu klagen. Nach ungewöhnlich kurzen zwei Monaten verkündet am 15. Juli 2015 die Richterin das Urteil. Alle Klagepunkte wies sie zurück. Da die Bewohner kein Anrecht auf das Land hätten, sei die Kompensation - genannt »Belästigungsentschädigung« - angemessen. Die Siedlungsbewohner haben das Gebiet zu verlassen und wie üblich die Gerichtskosten zu tragen, schließt die Richterin und verlässt unverzüglich den Saal.
Die versammelten Anwohner warten noch immer und blicken aufmerksam auf den leeren Richterstuhl. »Es ist vorbei«, ruft schließlich einer in Kisuaheli, »habt ihr es nicht begriffen, wir haben verloren.« Langsam trottet die Gruppe nun aus dem Saal, einige fassungslos, andere mit Tränen in den Augen. »Alles umsonst«, haucht Evanson, »und nun zahlen wir noch drauf.«
Das Urteil ist nicht nur bedeutend für »Deep Sea«, sondern für alle informellen Siedlungen in Kenia, denn es spricht den Bewohnern jegliche Legitimität ab. Dabei geht es zum einen um das politische, wirtschaftliche und soziale Verständnis von Land und zum anderen um Entwicklungsparadigmen.
Land in Kenia ist eine prekäre Angelegenheit; einer der Eckpfeiler der Kolonialpolitik war die Kommerzialisierung und Privatisierung von Land. Durch Gesetze der weißen Kolonialregierung wurden weite Teile der Bevölkerung enteignet und verblieben als Arbeiter der Kolonialisten auf den Ländern. Während der Unabhängigkeit wurde die »Landfrage« rasch unter den Teppich gekehrt, bereits hier stimmten Interessen der weißen Siedler, die ihre Ländereien behielten oder verkauften, mit denen der kenianischen Eliten überein, die wiederum Land aufkauften und unter sich verteilten (dies übrigens auf Kredit der Briten, die somit doppelt an ihrem »legal gestohlenen« Land verdienten).
Viele dieser offiziell Landlosen blieben entweder als »illegale Siedler« auf den enteigneten Farmen oder versuchten ihr Glück in der Stadt. Nairobi wurde und wird von jenen erbaut und genährt, die in diesen informellen Siedlungen wohnen. Zudem haben sie eine eigene wirtschaftliche und soziale Infrastruktur erschaffen; »Deep Sea« besteht neben Wohnhäusern aus einer Reihe Geschäften, Kiosks und Werkstätten, es gibt eine Tagesstätte und Kinder gehen zur Schule. Es braucht viel Zeit und Kraft, dies aus nichts zu erschaffen und anders als das so ersehnte Wirtschaftswachstum hat es direkte Auswirkungen auf die Lebensqualität der Menschen.
All diesem steht ein globales Wirtschafts- und Entwicklungsparadigma gegenüber, das auf Wachstum und Profit setzt. Auch das von der EU veröffentlichte Budget über 27,8 Millionen Euro, von dem sie 65 Prozent finanziert, enthält keine Zuweisungen für Umsiedlung oder Kompensierung. Dafür ist die kenianische Regierung außerhalb des Budgets zuständig. Für die Bewohner von Deep Sea fällt dabei nichts ab. Die Ressourcen kreisen um die, die schon welche haben - Investoren und jene, die später die Verbindungsstraße befahren und die Apartments mieten werden. Die Siedlung oder deren Bewohner haben dabei kaum monetären Wert und so kann man nun ganz legal für ein paar Groschen ihre Lebensgrundlage rauben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.