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Katalysator des Untergangs
Ignaz Lozo rekapituliert den Augustputsch 1991 in Moskau und das Ende der Sowjetunion
Als »Katastrophe im Zeitlupentempo« hat Eric Hobsbawm in seinem monumentalen Werk über »Das Zeitalter der Extreme« das Ende der Sowjetunion und das des damit einhergehenden kurzen 20. Jahrhunderts bezeichnet. Tatsächlich zogen sich der wirtschaftliche Niedergang samt schwerwiegender Versorgungskrisen, der außenpolitische Bedeutungsverlust (der sich nicht nur in der Passivität gegenüber dem Untergang der Satellitenstaaten zeigte), die Ablösungstendenzen einiger Teilrepubliken und die Erosion des Führungszentrums über quälend lange Jahre hin. Nach Gesprächen am Rande des G7-Gipfels in London im Sommer 1991 fragte sich daher selbst US-Präsident George W. Bush sen., ob Gorbatschow »nicht inzwischen den Überblick und den Anschluss an die Entwicklungen verloren« habe.
Was auf die Sowjetbürger nach der Auflösung der zweiten Supermacht wartete, war nicht weniger dramatisch. Kriege und Bürgerkriege und die brutal radikale Einführung des Kapitalismus erschütterten die nun unabhängig gewordenen ehemaligen Republiken der UdSSR; die Kollateralschäden dieses Prozesses dauern zum Teil noch heute an. International folgte auf den Untergang der Sowjetunion und das Ende der Bipolarität der Welt keineswegs eine Ära des Friedens, sondern eher eine des Chaos, die - siehe Ukraine-Konflikt oder Syrien-Krieg - keineswegs überwunden ist. Umso bemerkenswerter erscheint, dass im deutschsprachigen Raum bisher keine Monografie erschien, die jene Ereignisse und Entwicklungen historisch umfassend aufarbeitet. Die Lücke hat nun Ignaz Lozo, ehemaliger ZDF-Korrespondent in Russland, geschlossen. Der Autor studierte bisher unbekannte Quellen und hat etliche Interviews mit diversen Beteiligten geführt; ohne diese wäre die Mammutaufgabe wohl kaum zu bewerkstelligen gewesen.
Ins Zentrum seiner Darstellung rückt Lozo den Putsch gegen Michail Gorbatschow am 19. August 1991. Denn entgegen den Intentionen der Putschisten, die die Ratifizierung des Unionsvertrages, der den Republiken bei Wahrung einer formaler Einheit die nationale Unabhängigkeit bringen sollte, zu verhindern trachteten, sei durch den Staatsstreich das »Ende der bereits auf dem Rückzug befindlichen kommunistischen Staatsideologie besiegelt« worden.
Ausgehend von »Gorbatschows Machterosion und Orientierungslosigkeit 1990/91« rekonstruiert Lozo akribisch die Entscheidungen und Dynamik innerhalb der Apparate, die zum Putsch des sich aus Spitzenvertretern von KGB, Militär, KPdSU und militärisch-industriellem Komplex rekrutierenden »Staatskomitees für den Ausnahmezustand« (GKTSCHP) führten. Der Verlust der »Mittlerrolle«, die Gorbatschow bis zum Frühjahr 1991 zwischen den auf eine marktwirtschaftliche Ordnung und die Zerstörung des Staates zielenden Reformern um Boris Jelzin und den alten »Systembewahrern« inne hatte, habe eine Entscheidungsschlacht notwendig gemacht, konstatiert der Autor. Ausgiebig diskutiert er die Rolle des lediglich noch im Ausland hoch angesehenen sowjetischen Präsidenten, den die Vertreter des GKTSCHP um KBG-Chef Wladimir Krjutschkow im Ferienort Foros auf der Krim aufsuchten und unter Hausarrest stellten. Lozo weist überzeugend nach, dass entgegen manchen Legenden, die Gorbatschow als Mitverschwörer ausmachen, dieser nicht eingeweiht war und auch nicht einverstanden gewesen sei, gleichwohl er vielen Vertretern der »orthodoxen Kräfte« zentrale Stellungen verschafft und mit dem Gesetz über den Ausnahmezustand vom 3. April 1990 die rechtliche Grundlage für deren Umsturzversuch geschaffen hat.
Verschiedentlich verweist Lozo darauf, dass die Erfolgsaussichten des GKTSCHP nicht gering gewesen seien. Ihr Scheitern verdankte sich »Fehlkalkulationen, groben Fehlern und Unentschlossenheit« der Putschisten. Dazu gehörte, dass sie den Einsatz von Gewalt ausschlossen und über kein politisches Programm jenseits der Deklaration über die »Wiederherstellung der Ordnung« verfügten. Es folgte nicht nur das Verbot der KPdSU, sondern auch das Ende des von ihr über 80 Jahre geführten Staatenverbundes. So sei der Augustputsch letztlich ein »Katalysator des Untergangs« gewesen. Für dessen historisch-politische Rekonstruktion kann das Buch von Ignaz Lozo bereits jetzt als Standardwerk angesehen werden.
Ignaz Lozo: Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion. Böhlau Verlag, Köln/Weimar. 501 S., geb., 39,90 €.
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