Orbans kaltblütiges Kalkül
In der von ihm selbst verschärften Krise will sich Ungarns Premier als starker Mann präsentieren
Aus seiner Abneigung gegen die ungewollten Transitreisenden macht der bekennende Fremdenfeind im Amte des ungarischen Premierministers, Viktor Orban, keinen Hehl. Die Einwanderung der Flüchtlinge drohe »die christlichen Wurzeln des Kontinents zu untergraben«, warnt er. Die Ungarn wollten »nicht mit Moslems zusammen leben«, gibt er sich als streitbarer Rumpelpatriot: »Wir sprechen jetzt von Tausenden, aber nächstes Jahr schon über Millionen - es ist kein Ende in Sicht: Plötzlich werden wir zur Minderheit auf dem eigenem Kontinent.«
Europas christliche Werte führt der selbsternannte Schutzherr des Abendlands immer wieder gern als Begründung für seinen Feldzug gegen eine drohende Einwanderungsgefahr ins Feld. Doch kaum ein anderer Spitzenpolitiker Europas zieht derart schroff und herzlos gegen die durch sein Land ziehenden Kriegsflüchtlinge vom Leder. Als »Warnung« an alle Flüchtlinge, ihre Region zu verlassen, bezeichnete er kühl den Tod des beim Kentern eines Schlepperboots ertrunkenen dreijährigen syrischen Kindes im türkischen Bodrum.
Vor gut einem Vierteljahrhundert drückten Ungarns Grenzwächter beide Augen zu, als Tausende von DDR-Bürgern im Vorwendesommer 1989 den von Budapest freigegebenen Eisernen Vorhang überwanden. Nun sind es ungarische Gesetzeshüter, die auf Geheiß ihres Vormanns gen Westeuropa ziehende Kriegsflüchtlinge drangsalieren.
Als inhuman und zynisch geißelt nicht nur die internationale Presse die Täuschungsmanöver und das zynische Katz- und Mausspiel der Polizei mit den Gestrandeten am Budapester Bahnhof. »Warum ist es nicht möglich, Flüchtlinge menschlich, zivilisiert und höflich zu behandeln?«, fragt selbst die eher regierungsnahe Tageszeitung Magyar Nemzet.
Doch warum lässt der streitbare EU-Solist die Flüchtlinge nach ihrer Registrierung nicht einfach ziehen? Hinter dem eskalierenden Flüchtlingschaos in Ungarn wittern zumindest Orbans Kritiker politisches Kalkül: Einerseits wolle sich der Regierungschef, der zuletzt merklich an Popularität verlor, auch gegenüber der Konkurrenz der rechtsextremen Jobbik-Partei als starker Mann und Retter in der Not profilieren. Andererseits wolle er mit seinen am Freitag durch das Parlament gepeitschten Eilgesetzen den Boden für Notfallszenarien und dem Einsatz der Armee auch bei innenpolitischen Krisen vorbereiten.
Tatsächlich hatte der Premier nach einer Serie verlorener Nachwahlen seiner nationalpopulistischen Fidesz-Partei schon im Frühjahr eine ausländerfeindliche Plakataktion und sogenannte Volksbefragung lanciert. Die These einer bewussten Eskalation der Flüchtlingskrise wird derweil nicht nur durch Budapests Weigerung unterstützt, das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR die auffällig unterversorgten Flüchtlinge in Ungarn betreuen zu lassen.
Widersprüchlich scheint auch Orbans heftiger Widerstand gegen eine für die gesamte EU gültige Verteilerquote für Flüchtlinge: Gerade sie könnte Ungarn merklich entlasten. Doch nur an Zuschüssen aus Brüssel ist dem bekennenden EU-Skeptiker gelegen. An irgendeiner Abstimmung mit den EU-Partnern scheint der Solist kaum interessiert. Mit den am Freitag vom Parlament abgesegneten Notverordnungen soll die mit Stacheldrahtrollen gesicherte Grenze zu Serbien noch undurchlässiger werden und jeder illegale Einwanderer resolut abgeschoben werden.
Ungarns Vorgehen stößt bei den Betroffenen jedoch auf wachsenden Widerstand. Am Freitag wurde ein Massenausbruch von 1500 Menschen aus dem Durchgangslager im südungarischen Röszke vermeldet: Zu Fuß machten sich die Verzweifelten über die von ihnen blockierte Autobahn in Richtung der 180 Kilometer entfernten Hauptstadt Budapest auf.
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