Gesundheit statt Kommerz

Wie kann der Einstieg in den Ausstieg aus dem ökonomisierten Gesundheitswesen gelingen?

  • Ulrike Hempel
  • Lesedauer: 11 Min.
Die Konferenz »UmCARE« diskutiert Strategien für eine andere Gesundheitsversorgung als Einstieg in einen gesellschaftlichen Umbau.

Barbara Fried, stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse (IfG) und Hannah Schurian, Sozialwissenschaftlerin im IfG, sind für die Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Vorbereitung der Konferenz »UmCare – Für neue Strategien in Gesundheit und Pflege« beteiligt. Die Konferenz wird gemeinsam mit der Linksfraktion im Bundestag und dem Netzwerk Care Revolution getragen und findet von Freitag, den 16. Oktober bis Sonntag, den 18. Oktober 2015 in Berlin statt. Mit Barbara Fried und Hannah Schurian sprach Ulrike Hempel.

Seit wann laufen die Vorbereitungen für die UmCARE-Konferenz?
Fried: Ungefähr seit einem Jahr. Im letzten Sommer haben wir angefangen das Konzept zu entwickeln. Die ersten verbindlichen Schritte sind wir im Oktober 2014 gegangen, als wir die Fraktion DIE LINKE im Bundestag und das Netzwerk Care Revolution als MitveranstalterInnen gewinnen konnten. Außerdem haben wir eine ganze Reihe anderer Initiativen als KooperationspartnerInnen angesprochen. Seitdem arbeiten wir in dieser Konstellation.

Schurian: Uns geht es mit der Konferenz ja darum, unterschiedliche Anliegen und Perspektiven der Kritik im Bereich Pflege und Gesundheitsversorgung zusammenbringen. Und zwar nicht erst auf der Konferenz, sondern schon durch die gemeinsame Vorbereitung. Im Vorbereitungskreis sind Menschen aus sehr verschiedenen Zusammenhängen: aus Partei, Stiftung und Gewerkschaften, aus Verbänden und sozialen Bewegungen, aus kleinen Selbsthilfeorganisationen, linken Gruppen. All diese Akteure haben ihre eigene Perspektive auf das Thema. Daraus eine gemeinsame Konferenz zu entwickeln, zu entscheiden, welche Fragen wichtig sind, wo Konflikte und Gemeinsamkeiten liegen, ist eine spannende Aufgabe und erfordert intensiven Austausch. Ich glaube, dieser Prozess lässt sich auch an der Vielseitigkeit des Programms ablesen.

Können Sie bei der Planung der UmCARE-Konferenz auf die Erfahrungen zurückgreifen, die Sie mit der Aktionskonferenz Care Revolution 2014 gemacht haben?
Fried: Ja, auf jeden Fall. Allerdings haben wir diesmal das Thema auf Pflege, Assistenz und Gesundheitsversorgung zugespitzt, gleichzeitig das Spektrum der Akteure noch etwas erweitert. Die Aktionskonferenz, auf die sich UmCARE im Titel ja auch bezieht, hatte das Ziel, die vielen unterschiedlichen Bereiche sozialer Reproduktion gemeinsam in den Blick zu nehmen. Also neben Gesundheit, Pflege und Assistenz auch Erziehung, Bildung, Wohnen, Haushalts- und Sexarbeit. Die Probleme ähneln sich in diesen Bereichen sehr: Es geht um Privatisierungen und Kürzungen öffentlicher Mittel, aber auch um Zeitstress, Überforderung, Erschöpfung, Personalmangel… und zwar sowohl in der bezahlten wie auch der unbezahlten Sorgearbeit. Wir wollten damals ein starkes Zeichen setzen für die Notwendigkeit einer Care-Bewegung, die Anliegen verknüpft und Kräfte bündelt.

Schurian: Für diese Konferenz konzentrieren wir uns auf ein thematische Feld, in dem wir stärker in die Tiefe gehen wollen. Der Ansatz ist aber sonst sehr ähnlich, es geht um strategische Perspektiven: Wir suchen nach gemeinsamen politischen Handlungsfeldern und nach Möglichkeiten echter Solidarität. Aber wir versuchen auch Unterschiede und gegenseitiges Unverständnis diskutierbar zu machen. Und zwar zwischen Pflegekräften, pflegenden Angehörigen, PatientInnen, Menschen, die auf Unterstützung und Assistenz angewiesen sind sowie einer Linken, die sich für Fragen einer öffentlichen Daseinsvorsorge interessiert.

Fried: Ganz wichtig ist uns dabei die feministische Perspektive: Pflege – egal ob unbezahlt zu Hause oder professionell – ist ‚Frauenarbeit’. Bis heute wird oft davon ausgegangen, dass Frauen diese Tätigkeiten besser von der Hand gehen, quasi ‚weibliche’ Kompetenzen sind. Das führt nicht nur dazu, dass überwiegend Frauen diese Arbeit machen, sondern auch dazu, dass die Arbeit als Beruf kaum gesellschaftliche Anerkennung erfährt, also auch die Qualifikationen abgewertet werden – und zwar sowohl für Frauen wie für Männer. Das zeigt sich nicht zuletzt an den absurd niedrigen Löhnen, die für diese komplizierte und oft schwere Arbeit gezahlt werden.

Wenn Sie das Thema in der Vorbereitung so breit andenken, wie wollen Sie dann zu Ergebnissen kommen?
Schurian: Die Konferenz ist keine Fachtagung. In erster Linie geht es darum, mit den Beteiligten nach politischen Alternativen zu suchen und zu überlegen, wie wir zum gemeinsamen Handeln kommen – das sind die ‚Ergebnisse’, die wir uns wünschen. Dabei wollen wir eine Verständigung auf zwei Ebenen erreichen. Zunächst geht es um einen Austausch innerhalb der verschiedenen Tätigkeitsfelder. Denn natürlich sind die Probleme von Pflegekräften im Krankenhaus nicht identisch mit denen von pflegenden Angehörigen und auch die Anliegen von Menschen mit Pflege- oder Assistenzbedarf sind nicht deckungsgleich mit denen von Beschäftigten. Es gibt also einerseits Raum dafür, sich innerhalb dieser Tätigkeitsfelder zu verständigen. Zum anderen müssen die Anliegen aber praktisch verbunden werden, um politisch wirksam zu werden. Deshalb geht es in vielen Workshops um die Verbindungspunkte und Querschnittsthemen: Welche Daseinsvorsorge wollen wir und was sind dafür die Voraussetzungen? Es geht um andere Arbeitsbedingungen und eine neue Zeitpolitik, um Strategien der Organisierung und Bündnisoptionen. Und natürlich geht es auch um die Bedeutung von Migration und von Geschlechterverhältnissen - Aspekte, die in all diesen Fragen zentral sind.

Spüren Sie bei ihren Treffen und Gesprächen eher Frustration über die schwierigen Rahmenbedingungen in Gesundheit und Pflege oder eher eine Kraft hin zur Veränderung?
Schurian: Ich glaube, im Bereich Gesundheit und Pflege passiert gerade insgesamt sehr viel. Die Widersprüche und Krisenmomente sind hier besonders deutlich zu spüren. Das sorgt einerseits für Frustration. Aber gleichzeitig werden die Probleme auch mehr wahrgenommen - Probleme, die im Kern ja nicht neu sind. Diese neue Aufmerksamkeit hat auch damit zu tun, dass es neue Arbeitskämpfe gibt, und auch neue Formen des Protests. Zum Beispiel Bewegungen wie »Pflege am Boden«. Da nehmen sich bezahlte und unbezahlte Pflegekräfte gemeinsam in Flashmobs den öffentlichen Raum und sagen: So geht es nicht weiter, wir brauchen endlich gute Bedingungen und materielle Anerkennung. Oder die Bewegung der Gesundheitskollektive, die zusammen überlegen, wie man Gesundheitsversorgung anders machen könnte, wie man sie wohnortnah und demokratisch organisieren kann.

Fried: Ja, ganz wichtig ist hier sicher das Beispiel der Charité – dort gab es diesen Sommer einen erfolgreichen Arbeitskampf, der nicht nur bei den unmittelbar Beteiligten viel Energie freigesetzt hat: es wurden wirksam neue und beteiligungsorientierte Streikformen ausprobiert. Gleichzeitig haben die Beschäftigten viel Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen, indem sie nicht nur ihre Arbeitsbedingungen, sondern gleichzeitig die Qualität der Versorgung im Krankenhaus ins Zentrum gerückt haben. Das ist neu und darin liegt viel Potential. Auch in anderen Städten gibt es Auseinandersetzungen, gerade um die Privatisierung von Krankenhäusern.

Aber auch international gibt es beeindruckende Beispiele. Etwa von der Kalifornischen Gewerkschaft der Pflegekräfte: Sie haben es geschafft, die Arbeitsverhältnisse in Krankenhäusern mit der Frage der Qualität der Patientenversorgung zu verknüpfen und damit gesetzliche Pflegequoten zu erstreiten – also einen gesetzlich festgelegten Schlüssel zu der Anzahl der PatientInnen, die eine Pflegekraft auf unterschiedlichen Stationen jeweils versorgen muss. Das ist nun ein Vorbild auch für die Auseinandersetzungen in anderen Staaten der USA. Und hier bei uns.

Schurian: Vielleicht ist Aufbruchstimmung ein bisschen zu euphorisch gesagt – Interesse trifft es denke ich ganz gut: Es gibt im Moment einfach eine große Neugier für die vielen Positivbeispiele, die Ansätze der Veränderung. Viele wollen wissen, wie das funktionieren kann. Das wirft im nächsten Schritt die Frage auf, welche Rahmenbedingungen solche Ansätze brauchen, wie wir sie verallgemeinern können. Da kommt das Thema Finanzierung und Umverteilung ins Spiel und es stellen sich ganz grundsätzliche Fragen an unsere Gesellschaftsordnung. Deshalb ist das Thema auch relevant für Linke, die Gesundheit und Pflege eher als Fachthema wahrnehmen. Die drängenden Fragen werden hier ganz konkret: Wie können wir mit der Profitlogik brechen, wie können wir die Bedürfnisse der Menschen zum Maßstab machen?

Fried: Vor dem Hintergrund ist auch die Kampagne Caring Across Generations interessant, die unter anderem von der US-amerikanischen HaushaltsarbeiterInnen-Gewerkschaft getragen wird. Dort geht es darum, Bündnisse zwischen denjenigen, die auf Pflege angewiesen sind, deren Angehörigen und professionellen GesundheitsarbeiterInnen zu schmieden. Ziel ist es aber nicht nur die Qualität der Pflege zu verbessern, sondern ein gesellschaftlicher Wandel. Die breite Koalition soll beispielsweise dazu beitragen, gesellschaftliche Ressourcen zugunsten des Care-Bereichs so umzuverteilen, dass dort viele neue und qualifizierte Arbeitsplätze entstehen. Darin sind Fragen von Arbeitsverhältnissen und sozialer Ungleichheit genauso angesprochen wie die nach würdigem Leben im Alter und nach einer Kultur des ‚Schwach-Sein-Dürfens’. Es geht also um viel mehr als um ‚Pflege’. Aus beiden Organisationen haben wir Referentinnen zur UmCare-Konferenz eingeladen. Wir denken, dass wir von ihren Erfahrungen einiges lernen können – nicht zuletzt, was Organisierung angeht.

Gesundheitspolitik ist ein komplexer und nicht immer leicht verständlicher Bereich. Wie haben Sie das bei der Planung der Veranstaltung berücksichtigt?
Schurian: Es war uns wichtig, auch Angebote für »EinsteigerInnen« zu haben. Direkt am Anfang bieten wir sechs Einführungs-Workshops an. Da soll Hintergrundwissen vermittelt werden und auch Grundbegriffe der Kritik. Es wird z.B. erklärt, wie die Personalnot in den Krankenhäusern zustande kommt und was das mit dem sogenannten Fallpauschalensystem zu tun hat. Oder was wir eigentlich meinen, wenn wir von »Care-Arbeit« sprechen. Dabei wird es auch viel Raum für Nachfragen und Dialog geben. Das soll allerdings in allen Veranstaltungen so sein: Die Workshops sind grundsätzlich als Mit-Mach-Formate gedacht.

Fried: Das hängt auch mit dem Publikum zusammen, das wir uns wünschen. Wir rechnen mit ca. 500 TeilnehmerInnen aus sehr unterschiedlichen Spektren. Ansprechen wollen wir zum einen Menschen, die sich im Gesundheitswesen in betrieblichen Auseinandersetzungen befinden, also in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern. Ich hoffe, dass hier auch Leute aus anderen Bundesländern kommen. Gerade in kleineren Städten sind die Auseinandersetzungen oftmals weniger zugespitzt. Da kann ein Wissensaustausch mit großen Häusern wie der Charité sicher fruchtbar sein.

Außerdem soll die Konferenz Räume für diejenigen öffnen, die oft rund um die Uhr ‚im Dienst’ sind, und das Haus kaum verlassen können, weil sie behinderte Kinder oder schwerkranke Partnerinnen oder Freunde versorgen. Gerade von pflegenden Angehörigen gibt es schon im Vorfeld viel Interesse, was uns sehr freut. Sie haben individuell oft kaum eine Chance, sich politisch zu engagieren. Für unentlohnte, private Sorge- und Pflegearbeit gibt es wenig Möglichkeiten und kaum Erfahrungen der kollektiven Organisierung. Dies soll bei der UmCare-Konferenz eine wichtige Rolle spielen.

Dasselbe gilt für die Anliegen derjenigen die selbst auf Pflege oder Assistenz angewiesen sind. Wenn wir gemeinsam nach Perspektiven einer neuen Art öffentlicher Daseinsvorsorge suchen, dann ist die Frage der demokratischen Gestaltung absolut fundamental. Soll heißen, sozialen Infrastrukturen und ihre Angebote sind nur dann gut, wenn sie die unterschiedlichen und teils sehr spezifischen Bedürfnisse der NutzerInnen tatsächlich erfüllen. Das geht aber nur, wenn diese ihre Perspektiven systematisch einbringen können. Natürlich gilt das auch für die Konferenz. Gemeinsam mit einem der Kooperationspartner, dem Verein Mobil mit Behinderung e.V., arbeiten wir deshalb daran, allen Interessierten eine möglichst uneingeschränkte, barrierefreie Teilnahme zu sichern.

Schließlich hoffen wir, wie Hannah schon gesagt hat, dass das Interesse über diejenigen hinausgeht, die persönlich oder beruflich mit dem Thema befasst sind. Insgesamt geht es uns ja um einen Einstieg in den Ausstieg aus einem ökonomisierten Gesundheitswesen, das sich momentan eben nicht an Bedürfnissen, sondern an Markterfordernissen orientiert.

Warum beschäftigt sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung überhaupt mit dem Thema Pflege und Gesundheit? Weshalb ist das Thema relevant?
Schurian: Ich denke, das Thema hat großes gesellschaftspolitisches Potential. Die Pflege lässt sich eben nicht so rationalisieren wie beispielsweise die Autoindustrie. Die Grenzen - oder besser - die Kosten der Wachstums- und Profitlogik werden hier besonders deutlich. Wenn wir an diesen Kategorien festhalten, gerät Sorge-Arbeit immer weiter unter Kostendruck. Wenn wir diesen Bereich stattdessen so ausstatten wollen, wie es nötig und wünschenswert ist, stellt das unsere Arbeitsgesellschaft und ihre Prioritäten komplett in Frage. Es kehrt sie eigentlich radikal um – das ist es auch, was der Titel »UmCare« anspricht. Und darin sehe ich eine Chance. Denn die Forderung nach guter Pflege und Gesundheitsversorgung – dahinter stellen sich ja viele Leute, auch wenn sie keine linke Gesellschaftsanalyse in der Tasche haben.

Fried: In der RLS beschäftigen wir uns seit Jahren mit der Frage, wie sich Gesellschaftsanalyse und theoretische Debatte mit konkreten Ansätzen politischer Organisierung verschränken lassen. In diesem Sinne experimentieren wir auch mit solchen ‚organisierenden Veranstaltungsformaten’ – nicht nur im Care-Bereich.

Die Frage ist doch: Wie lassen sich hier und heute Veränderung anstoßen, die die Perspektive auf etwas Überschreitendes im Blick haben? Kaum jemand glaubt an eine Revolution, dass plötzlich alles anders wird. Für eine Linke, die an einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik festhält, stellt sich deshalb die Frage: Wie können wir Veränderungen anschieben, die die Bedingungen für nächste Schritte vorbereiten, so dass sich Kräfteverhältnisse Stück für Stück verschieben lassen und grundlegendere Transformationen möglich werden. Absolut zentral ist dabei, dass wir mehr werden! Die Linke ist klein und zersplittert. Um viele Menschen davon zu überzeugen, dass es Alternativen jenseits von Sparpolitik und wachsender Ungleichheit gibt, spielt das Ringen um eine bedürfnisorientierte, demokratische Daseinvorsorge eine wichtige Rolle. Es sind hier Alltagskämpfe, an denen wir ansetzen können, in denen auch kleine Veränderungen echte Erleichterung bedeuten. Und in denen das gemeinsame Streiten – zum Beispiel für eine gute Pflegeinfrastruktur – mit kollektiven Lernprozessen verknüpft sein kann und die politische Handlungsfähigkeit erweitert. Für solche Erfahrungen soll die Konferenz auch ein Ort sein.

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