Die Welt im Kiez
Das Video-Tanz-Projekt »On Tradition« in der Weddinger Badstraße
Zu Beginn sieht man nur blau gemalte Fingernägel, die durch die Luft fliegen, weil die dazugehörenden Hände gestikulieren. Dann sieht man die ganze Frau, wie sie mit anderen durch eine Werkstatt tanzt und hört ihr schließlich zu, wie sie vom Glück erzählt, das die Bewegung bei ihr auslöst. Am Ende des kleinen Videos sieht man Nicole schließlich als Tischlerin ihrem Tagwerk nachgehen. Sie repariere alte Schubladen, meint sie lächelnd - und zugleich erzählt sie davon, wie sehr sie es bedauert, dass in einer Großstadt wie Berlin der Kontakt mit den Alten, der Austausch mit den Großmüttern und Großvätern nicht mehr so ist, wie sie dies in ihrer Kindheit erlebte.
Dass die Tischlerin überhaupt über Bewegung für sich und Kontakt mit den Alten redet, ist Jo Parkes zu verdanken. Die britische Choreografin ist eine leidenschaftliche Menschenzusammenbringerin. Sie initiierte etwa im Rahmen der Berlin Mondiale in einem Wohnheim für Geflüchtete tänzerische Begegnungen der Bewohner untereinander und mit Gastkünstlern. Im Projekt »On Tradition« bringt sie vor allem Gewerbetreibende in und um die Weddinger Badstraße in Bewegung und in Kontakt. Zwölf etwa fünfminütige Videos werden genau an den Standorten, an denen die Besitzer und Mitarbeiter porträtiert wurden, präsentiert. In Nicoles Möbelhauerei in der Buttmannstraße zum Beispiel oder im Frisiersalon von Adnan in der Badstraße 48. Da zeigt der Haarbändiger, der ursprünglich Sportlehrer in Irak war, einen traditionellen Hochzeitstanz. Sein Gesicht strahlt, und er beginnt, von den Festen in seiner Heimat zu erzählen. In Deutschland lebt er seit 20 Jahren. Und er ist dankbar, dass er hier leben darf. Dennoch sei das Leben hier wie »Essen ohne Geschmack«, meint er. Wenige Tage zuvor war er im Land seiner Geburt, hat Verwandte dort besucht. »Aber es sei eine schreckliche politische Situation dort, mit viel Gefahren«, sagt er bedauernd.
Auch Muneer vom Telecafé Almahaba, einen Hauseingang weiter, weiß vor allem Schreckliches von seiner Heimat Gaza zu erzählen. Als er seinen dort lebenden Eltern seine Frau und sein Kind vorstellen wollte, begannen die Bombardements. »Die Kinder wurden starr vor Angst«, berichtet er. In ein Land der Märchenprinzen hingegen entführt Ramazan vom »Golden Kids Paradise« den Besucher. Bestickte Gewänder und Kappen sind hier zu sehen. Auch er zeigt festliche Tänze aus seiner Heimat.
Die Kurzvideos - auch eine Bibliothekarin, eine Choreografin der nahen Uferstudios und ein Pastor der St. Paul-Kirche beteiligten sich - zeigen ganz unterschiedliche Menschen und geben so einen Hinweis auf die kulturelle Vielfalt in diesem Kiez. Passanten lassen sich auf das Angebot ein. Schade nur, dass Parkes diese Kiezvorstellung von zwölf Personen in deren jeweiligem Arbeitsumfeld jedes Mal um 19 Uhr abbricht. Viele der Läden haben weit länger auf. Aber ein Anfang ist gemacht, um Menschen in der Badstraße auch jenseits ihrer Dienstleistungen kennenzulernen.
Das urbane Videospiel ist vorerst bis 18.9. zu sehen. Lagepläne und Infos unter www.joparkes.com.
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