Der alte Mann & das Meerschweinchen
Lachenmann-Oper
Genauso macht man es, wenn man sich (mit guten Gründen) selbst für das Opernhaus des Jahres hält: Man setzt zur Spielzeiteröffnung Helmut Lachenmanns 1997 in Hamburg uraufgeführtes »Mädchen mit den Schwefelhölzern« an, holt sich für dieses grenzgängerische Werk mit Benedikt von Peter (dem designierten Chef der Oper Luzern) einen der aufregendsten Regisseure der Republik ans Haus und sorgt auch bei diesem Solitär avantgardistischen Musiktheaters für die Qualität, die hier bei Wagner, Strauss oder Weber üblich ist. Auch wenn nicht so musiziert, gesungen und gespielt wird, wie es sich in ein paar hundert Jahren fürs Genre Oper eingebürgert hat. Was dann tatsächlich eine Hand voll Frankfurter nicht bis zum Ende mitmachen wollten. Die hatten zwar das Auftakt-Happening vor dem Opernhaus und im Foyer miterlebt, aber nicht mehr das tieftraurig nach zwei Stunden ins Nichts der Sprachlosigkeit vertröpfelnde Ende im Haus. Vor dem Haus zog nämlich die Titelfigur als überlebensgroße, aufblasbare Puppe langsam an der Fensterfront des Foyers vorbei, wo man die Stühle für die Zuschauer mit dem Blick nach draußen aufgestellt hatte. Ignoriert wie die Bettler vor der Tür, das bringt den mahnend märchenhaften Teil der Geschichte auf den Punkt.
Dass man dem Mädchen dann auch leibhaftig in der Oper begegnet, war nicht zu erwarten. Wie auch bei einem Regisseur, der es etwa in Hannover fertig gebracht hat, sogar Don Giovanni ins Reich des Unsichtbaren zu verbannen. Es gibt also keine bibbernde Elendsgestalt wie in Andersens Märchen, ja nicht mal eine Bühne. Wenn man mal davon absieht, dass sich die beiden Sopranistinnen Christine Graham und Yoko Kakuta an der Wand entlangschieben. Bei Natascha von Steiger ist das ganze Haus Bühne und Zuschauerraum zugleich. Fünf Sitzreihen sind auf der Bühne platziert, der größte Teil des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters unter der höchst präzise koordinierenden Leitung von Erik Nielsen sitzt auf einem Podium hoch über ihren Köpfen. Der Rest ist wie auch der Chor (ChorWerk Ruhr) auf den Rängen verteilt. Schrift wird über den gesamten Innenraum der Oper projiziert. Wirkt auch, wenn sie von unten nach oben läuft, als würde es schneien. In der Mitte, wo sonst die Rampe ist, sehen wir den Schauspieler Michael Mendel. Wie er mit einem Meerschweinchen spielt, es füttert, wärmt, beschützt. Wenn nicht als Bühnenreinkarnation des Menschenkindes von dessen traurigem Lebensende nur Wortfetzen in die Geschichte ragen, tröpfeln, schneien, manchmal plauzen, so doch als eine Metapher für dessen Schutzlosigkeit. Wenn man das »Ritsch« eskalieren hört, mit dem das Mädchen selbst zündelt, dann scheint hier ein gleißendes Licht auf oder ein echtes Streichholz in den Händen des alten Mannes mit dem Meerschweinchen. Als ein vertracktes Bild der Lebenssehnsucht. Wenn Lachenmann unkenntlich gemachte Texte von Leonardo da Vinci dazwischenschneidet und das ganze mit Passagen von Gudrun Ensslin versetzt, dann erinnert das an deren nicht märchenhaftes, sondern gefährliches Zündeln aus Wut.
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