Kleiner Wind, der günstig steht

Der Welttag des Meeres, Shakespeares Suppenlöffel und Tau von den Bermudas

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Schönheit und Schrecken liegen dicht beieinander. So schließt gerade jetzt jedes Sinnen über Meere das Entsetzen über ertrunkene Menschen ein - ohne dass die Faszination über den ozeanischen Zauber nachließe.

Vor über dreißig Jahren rief die International Maritime Organization (IMO) den 22. September als Welttag des Meeres aus - und begeht ihn noch heute. 2009 erklärte die UNO den 8. Juni zum Gedenk-»Tag des Meeres«, da am 8. Juni 1992 in Rio de Janeiro der sogenannte »Erdgipfel« stattgefunden hatte. Der September aber hat sich in den Kalendern gehalten, einige Ländern variieren von Jahr zu Jahr zwischen 22. und 24. des Monats. Wellenbewegung also. Kein fester Datierungsboden. Aber gerade jetzt schwappt die Assoziation von rettendem wie tötendem Wasser bedrückend in unser Gemüt.

»Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. - Nachmittags Schwimmschule.« Diese an Lakonik nicht zu überbietende Tagebucheintragung Franz Kafkas vom 2. August 1914 ist zur Kernaussage über die ewige Gleichzeitigkeit von Schönheit und Schrecken geworden. So, wie jetzt auch jedes Sinnen über Meere das Entsetzen über ertrunkene Menschen einschließt - ohne dass doch unsere Faszination über den ozeanischen Zauber je nachließe.

Die Seefahrt. Das gesetzte Segel. Der Wind, der hineinfährt. Dazu ein kräftig hinausdrängendes Herz. Man lese Johann Gottfried Herders Schiffsreise-Buch von 1769, eine Vorwegnahme von Nietzsches »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« Mit der Kolumbusfahrt und ihrer weltgeschichtlichen Sprengwirkung hatte eine Poesie des Transports und der Überfahrt begonnen. Eine Liaison von Geografie und Einbildungskraft: An fernen Ufern werde Strand erreicht, aber doch keinesfalls gestrandet. Shakespeare gab anderen Ahnungen Ausdruck: »Wie ich in mein Suppenlöffel blase«, so heißt es im »Kaufmann von Venedig«, so »bliese ich mir einen Schüttelfrost an, wenn ich dächte, welchen Schaden ein zu starker Wind auf See tun könnte«.

Die zu starken Winde kamen, und am Ende aller Ausfahrten steht die Invasion der Traumschiffe. Die Liegestühle auf den Decks stehen in langen Reihen, für Leute, die pauschal dafür bezahlt haben, den fernen Horizont mit ihrem Dösen zu entwürdigen. Und wer mit dem Flugzeug Kontinente überquert, der überquert teilnahmslos und in Windeseile Klimazonen, Kriegsfelder, Katastrophengebiete, Hungersavannen. Ebenso kalt überfliegen wir jenes Wasser, das für Kampf steht - zwischen dem Sturm der menschlichen Leidenschaft, das Maßlose zu bezwingen, und den Stürmen der Natur, diesen Eifer zu stoppen. Die Verzwergung der Reise zum Transport hat alle Ufer einander näher gebracht. Die Gier nach Erweiterung wird kaum noch von einem Verlangen nach Demut begleitet. Und wozu überhaupt noch hinaus? Was einmal fern war, zeigt sich jetzt mühelos auf Monitoren. Auf denen der Planet wieder zur Scheibe wurde. Und alles Wissen ist eine Einladung zur Großspurigkeit geworden, die am Display sogar alle Katastrophen kinderleicht durchspielen kann. Nur nicht die Tränen.

Es ist kein Problem mehr für uns Heutige, Distanzen zwischen Erde und Himmel auf raffinierteste, präziseste und schnellste Weise zu überwinden. Jedoch dieser eine Millimeter über dem Boden, auf dessen Höhe wir ins Schweben kämen - er bleibt uns versagt. Zu hoch für uns. Zu geerdet sind wir, diese gesamte Gattung der Modernen, die sich vor lauter kaltem Durchblick keinen Sinn fürs Überschwängliche mehr zutrauen wollen. Die Mittigen, Maßvollen, Mäßigen wissen: Das Romantische greift nach jedem Ausdrucksvermögen und verwandelt es in Sehnsucht. Und jede Sehnsucht macht die Welt unsicher, weil in ihr eine Idee vom anderen Leben lauert. Das Romantische ist also gefährlich. Gefährlich währt am längsten.

Aber dieses romantische Weltempfinden ist nicht zu tilgen: Es begrüßt den Sonnenaufgang am Meereshorizont, und zwar ohne die abwinkende Vorausahnung all des erfahrungssicher Bösen und Schlechten, das die Sonne auch heute wieder an den Tag bringen wird. »Meine einzige Absicht ist es, die Welt meines Gottes von mehr Seiten kennenzulernen.« So Herder, bevor er das Schiff bestieg. Der RAF-Häftling Christian Klar, das hat Günter Gaus berichtet, habe eine seiner Begnadigungsgesuche auf eine Ansichtskarte mit einem Segelschiff geschrieben.

Federico Fellini drehte den Film »Das Schiff der Träume« und notierte: »Ich habe die ganze Zeit an die ›Titanic‹ gedacht, weil es keine andere Schiffstragödie gibt, die derart suggestiv einlädt, unser aller Existenz zu bedenken.« Nämlich: dass in der Welt immer wieder ein Auslöser lauert für den offenen Kampf zwischen den sozial angeordneten Decks, der Krieg also zwischen Oben und Unten. Auch, dass der Mensch erst im Angesicht der Katastrophe lernt, dass er die meiste Zeit seines Lebens im Sog eines Egoismus, einer Härte, einer Selbstbehauptung, einer Sturheit lebte, die ihn erst kurz vorm unausweichlichen Tod in die letzterflehte Hoffnung treibt - diese Welt doch noch im Friedensgeist zu verlassen. Die bittere Stunde der Wahrheit kommt nicht unter guten Sternen.

Es sagt nicht nur die Psychologie, es sagt die täglich erlebbare Erfahrung: Selbst unter noch so dunklen Himmeln lässt sich Hoffnung nicht zensieren. Der Flüchtling auf staubiger kroatischer Straße oder auf serbischen Eisenbahngleisen greift kraftlos nach einer Flasche Wasser - und hofft in gleicher Sekunde auf jene Wellen imaginären Glücks, die ihn durchs Häusermeer deutscher Großstädte tragen werden. »O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!« Ja. Dennoch hoffen alle. Kein Krieg, kein Tsunami, kein Schiffsuntergang, nichts kann diese Hoffnung besiegen, die von Goethes Faust nur noch abschätzig, wie ein Fetzenrest, hingeworfen wird. Jeder hofft: Im Sturm, der alle und alles hinwegfegt, möge der kleine Wind geboren werden, der günstig steht. Vor Sizilien, vor Lampedusa, vor Kos.

Jedes Sehnen ist ein instinktives Steigerungsgeschehen. Es ist Vorsorge gegen den Ansturm einer Wirklichkeit, die naturgemäß ganz anders ist, als es uns lieb wäre. Dennoch! Im »Sturm« von Shakespeare taucht eine seltsame Metapher auf: »Tau von den sturmumtosten Bermudas«. Luftgeist Ariel hat ihn für Prospero geholt. Dieser Tau inkarniert »die Einheit von Risiko und Verklärung, mächtiger als Kapital und Rente, ein transatlantischer Gralstropfen, Schöpfungswasser aus der Reservewelt« (schön formuliert von Peter Sloterdijk). Nach diesem zauberhaften Tau zu verlangen, bedeutet: Kurs zu nehmen auf Inseln des Gelingens. Die Träume bleiben. Aber wo der Mensch Unentrinnbarkeit fühlt, dort treibt er sich doch immer wieder eine Strapaze des Trotzes ins Fleisch. Wo ihn die Fesselung durch Existenznot plagt, dort erklärt er allen Drahtzäunen und salzigen Untiefen den Krieg. Wo der Mensch seine Ohnmacht spürt, dort geht und schwimmt er los, geht wie wild auf seine eigenen Zweifel los, besteigt Berge und Boote, höhnt den Schwerkräften, reißt den Schmerz an sich, als sei allein schon der die ersehnte Beute.

Heiner Müller schrieb, wenn die Menschen nicht mehr kämpfen werden, kämpfen die Landschaften. Auch die Ozeane. Sie werfen uns tote Flüchtlinge vor die sandigen Füße. Weil wir als Lebende nicht mehr wirklich kämpfen. Wir Begrabenen in Wahlurnen. Jenes Meer, das in panische Lungen einfällt, will uns auf diese Weise auf die grausamste Tatsache stoßen: kein Weg nach vorn, aber noch schlimmer - kein Weg zurück. Die Menschen, die flüchtend in Boote steigen (oder Wüsten durchqueren), entfliehen einer Welt, die mehr und mehr aus gescheiterten Staaten besteht, und dies ist Resultat von »Mechanismen, mit denen die Großmächte ihren ökonomischen Kolonialismus betreiben« (Slavoj Žižek). Wir also. Freier Warenmarkt, nun freier Menschenmarkt? Paradox, dass Millionen der vielgestaltigen Sklaverei entfliehen, um just im Westen, also ausgerechnet dort das Glück zu versuchen, wo eine neue Sklaverei zum Motor wurde. Globalisierte Wirtschaft.

So funkelt das Meer oder dunkelt sich ein. Für die ganz einfache Wahrheit, was das sei, Liebe zur Natur: Nur wenn einem nichts zusteht, kann man lange davon zehren. Oder wir kommen in die missliche Lage, dass sich uns hohe Wellen nähern und wir auf dem Handy, bevor es nass wird, dringlich nach einer Arche telefonieren.

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