Pro Asyl kritisiert »Orbanisierung der Flüchtlingspolitik«
Gipfel ohne Flüchtlinge: Mehr Geld, mehr Härte / Kritik an Einigung von Bund und Ländern zur Kostenverteilung / Rot-Rot in Brandenburg uneins über »sichere« Herkunftsstaaten
Udpate 14.40 Uhr: Gefälschtes Flugblatt zum Thema Asyl taucht in Dresden auf
Unbekannte haben am Freitag in Dresden ein gefälschtes Flugblatt zum Thema Asyl in Umlauf gebracht. Das Schreiben trägt das Logo der sächsischen Landeshauptstadt und die Unterschrift einer Mitarbeiterin, die ohne deren Wissen verwendet wurde. Darin werden die Einwohner gebeten, dem Sozialamt Angaben zu ihrer Wohnungsgröße zu machen, damit die Stadt dann Flüchtlinge einquartieren kann. Die Gesinnung der Fälscher wird schon am Sprachgebrauch deutlich: In dem Schreiben ist von zugewiesenen »Aussiedlern und jüdischen Emigranten« die Rede. Ansonsten ist das Schreiben in Amtssprache gehalten. Die Stadt distanzierte sich umgehend und prüft strafrechtliche Schritte.
Update 13.30 Uhr: Unternehmer-Lobby kritisiert Gipfel-Beschlüsse zur Flüchtlingspolitik
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist mit den Beschlüssen des Flüchtlingsgipfels von Bund und Ländern nicht zufrieden. Vor allem die Arbeitsmöglichkeiten für Asylbewerber seien noch zu stark beschränkt, sagte Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer der in Düsseldorf erscheinenden »Rheinischen Post«. Er forderte, »dass das Beschäftigungsverbot in der Zeitarbeit für Asylsuchende mit Bleibeperspektive und Geduldete vollständig entfällt«. Weiter verlangte Kramer von der Bundesregierung, für Asylsuchende mit hoher Bleibeperspektive sowie Geduldete die Vorrangprüfung durch die Bundesagentur für Arbeit vollständig abzuschaffen. Die Regel besagt, dass bei einer zu besetzenden Arbeitsstelle zunächst geprüft wird, ob es einen qualifizierten Bewerber aus Deutschland oder einem EU-Mitgliedsland gibt. »Nur so können alle Flüchtlinge mit hoher Bleibeperspektive nach drei Monaten arbeiten, ohne dass 15 Monate lang die bisher bestehende bürokratische Vorrangprüfung viele der Betroffenen daran hindert«, sagte Kramer. Außerdem sollten Flüchtlinge mit Bleibeperspektive und einer Lehrstelle zwei Jahre nach Ende der Ausbildung nicht abgeschoben werden dürfen, wenn der Betrieb eine Übernahme garantiere, sagte der Arbeitgeber-Präsident weiter. Dabei müsse die Möglichkeit einer Ausbildung auch älteren Jugendlichen offenstehen. »Die Altersgrenze von 21 Jahren für den Ausbildungsbeginn von Asylsuchenden verbaut wertvolle Chancen und muss fallen«, verlangte Kramer.
Update 12.30 Uhr: Pro Asyl: »Hardliner haben sich durchgesetzt«
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat die Beschlüsse der flüchtlingspolitischen Gipfel in Berlin und Brüssel scharf kritisiert. »Statt auf Aufnahme und Integration setzen Deutschland und Europa auf Abwehr und Ausgrenzung«, heißt es in einer Erklärung. Die Bundesregierung vollziehe »mit Rückendeckung der grün mitregierten Länder eine Kehrtwende« in der Asylpolitik. Pro Asyl verweist dazu unter anderem auf die »Zwangsunterbringung von Flüchtlingen bis zu sechs Monaten in Erstaufnahmelagern«, die Integration verhindere »zu menschenrechtswidrigen Zuständen auf Dauer« führe. Die Herabsenkung von Sozialleistungen für Flüchtlinge unter das vom Verfassungsgericht definierte menschenwürdige Existenzminimum wird als »ein Angriff auf den Sozialstaat« kritisiert. Auch die Einstufung von drei weiteren Ländern als angeblich sichere Herkunftsstaaten und die »Absegnung einer verschärften Außengrenzenkontrolle der EU durch die Bundesländer« stößt auf deutliche Ablehnung. »Hardliner haben sich auf Kosten der Menschenrechte von Flüchtlingen durchgesetzt. Wir stehen nun vor einer Orbanisierung der Flüchtlingspolitik an Europas Grenzen«, sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl. Statt dem Schutz verfolgter Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan schütze die EU nun ihre Grenzen. Der angestrebte Deal mit der Türkei soll zusätzlich die Fluchtwege versperren. »Europa macht dicht und Deutschland macht mit«, so Burkhardt.
Update 12.28 Uhr: Rassisten attackieren Flüchtlingsbus in Finnland
In Finnland haben am Freitagmorgen dutzende Rassisten einen Bus mit Flüchtlingsfamilien attackiert. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen zeigte Bilder von rund 40 Personen, einige hielten brennende Fackeln in den Händen, ein Demonstrant hatte sich im Stil der rassistischen und gewaltbereiten US-Organisation Ku-Klux-Klan verkleidet und trug eine finnische Flagge in der Hand. Die Demonstranten warfen Feuerwerkskörper und andere Brandsätze auf den Bus. In dem Bus saßen vor allem Familien mit Kindern, die zu einem Aufnahmezentrum in Lahti etwa hundert Kilometer von Helsinki entfernt gebracht werden sollten. Die finnische Regierung verurteilte die rassistischen Übergriffe. Gewalt und Drohungen seien »nicht zu rechtfertigen«, hieß es in einer Erklärung. Regierungschef Juha Sipilä fügte hinzu: Gewalt gegen Asylsuchende und Migranten sei »absolut inakzeptabel«.
Update 11.25 Uhr: Rot-Rot in Brandenburg streitet über sichere Herkunftsstaaten
Nach dem Asylgipfel von Bund und Ländern ist in der rot-roten Koalition in Brandenburg ein Streit über die Umsetzung der Beschlüsse entbrannt. LINKEN-Fraktionschef Ralf Christoffers erklärte am Freitag in der Aktuellen Stunde des Landtags, dass seine Partei bei der Einstufung der Balkan-Länder Kosovo, Albanien und Montenegro als sichere Herkunftsländer »eine andere Auffassung« habe. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hatte der Regelung auf dem Asylgipfel am Donnerstag zugestimmt. Christoffers verwies darauf, dass es wegen Defiziten bei Menschenrechten und Justiz Vorbehalte gegen eine Aufnahme dieser Staaten in die EU gebe.
SPD-Fraktionschef Klaus Ness versicherte, die Koalition werde pragmatische Lösungen finden. Einen Antrag der CDU-Opposition, die Landesregierung solle im Bundesrat für die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer stimmen, lehnten die rot-rote Koalitionsmehrheit und die Grünen jedoch ab. Oppositionsführer Ingo Senftleben warnte vor einer Lähmung durch einen Koalitionsstreit: »Wir brauchen nun eine handlungsfähige Regierung, und nicht eine zerstrittene.«
Update 11.10 Uhr: LINKE gegen Fixierung auf Restriktionen und Abschreckung
Mehrere führende Politiker der LINKEN haben sich in einer gemeinsamen Erklärung für die Wahrung des Grundrechts auf Asyl ausgesprochen. Obwohl die Bundesrepublik mit der Aufnahme Hunderttausender Menschen vor einer der größten Herausforderung seit der Widervereinigung stehe, dürfe zur Bewältigung der Aufgabe »weder der grundgesetzlich verankerte Schutz der Menschenwürde noch das Grundrecht auf Asyl dürfen für die Bewältigung zur Disposition gestellt werden«, erklärten die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, die Landesvorsitzende der LINKEN in Thüringen und der Linksfraktion im Thüringer Landtag, Susanne Hennig-Wellsow, sowie, der Landesvorsitzende der LINKEN in Brandenburg, Christian Görke. Als kurzischtigen Aktionismus bezeichneten die LINKEN-Politiker vor allem di aktuell »diskutierten gesetzlichen Verschärfungen des Asyl- und Ausländerrechts und Leistungseinschränkungen für Flüchtlinge«. »Die Fixierung der öffentlichen Debatte auf Restriktionen und Abschreckung geht an den Realitäten vorbei.«
Gipfel ohne Flüchtlinge: Mehr Geld, mehr Härte
Berlin. Der so genannte Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt, an dem Vertreter der Zufluchtsuchenden selbst nicht teilnehmen konnten, richtet die deutsche Asylpolitik neu aus: Der Bund übernimmt einerseits mehr Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge, es gibt aber auch deutlich mehr Härte gegen Menschen, die wenig Chancen auf Asyl haben.
Die Runde von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und der Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer verständigte sich mehrheitlich unter anderem auf Verschärfungen im Asylrecht. Unter anderem sollen die Westbalkan-Länder Albanien, Kosovo und Montenegro als weitere »sichere Herkunftsländer« eingestuft werden. Asylbewerber aus diesen Staaten könnten dann schneller in ihre Heimat zurückgeschickt werden. Geldleistungen für Asylbewerber sollen künftig nur noch einen Monat im Voraus bezahlt werden. Und in Erstaufnahmeeinrichtungen sollen Flüchtlinge möglichst nur noch Sachleistungen erhalten.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow zeigte sich nur teilweise zufrieden. »Das Paket enthält Licht und Schatten«, sagte er der »Thüringer Allgemeinen«. Die Finanzzusagen seien »ein Schritt in die richtige Richtung«, aber nicht ausreichend. Ramelow kündigte an, die pauschale Einstufung der Westbalkan-Länder als »sichere Herkunftsstaaten« abzulehnen. »Den Gesetzesvorhaben, die nur auf Abschreckung ausgerichtet sind und Ressourcen für sinnlose Bürokratie binden, konnte ich nicht zustimmen.«
In einer Protokollerklärung machte das Land Thüringen geltend, dass die Finanzierungszusagen des Bundes den tatsächlichen Herausforderungen in Ländern und Kommunen »nicht vollständig gerecht« würden. So würden unter anderem die Kosten nicht erfasst, die der Bund bei der Unterbringung von flüchtenden Kindern und Jugendlichen den Ländern auferlegt. Auch stehen die Residenzpflicht und die nun angepeilte Verlängerung der Pflicht, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu leben, einer schnellen Integration von Zufluchtsuchenden entgegen. Thüringen forderte zudem weiter gründliche Asylprüfungen bei Westbalkanstaaten wegen der »systematischen Diskriminierung der Roma in diesen Ländern«.
Die Ergebnisse des Bund-Länder-Gipfels sind auch aus Sicht der Kommunen in Teilen unzureichend. »Insbesondere für Asylbewerber und Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsstaaten muss vermieden werden, dass sie vor Beendigung des Asylverfahrens auf die Kommunen verteilt werden«, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages, Hans-Günter Henneke, der in Düsseldorf erscheinenden »Rheinischen Post«. Dies habe der Gipfel aber nicht präzise und konkret genug geregelt. Zudem würden die Kommunen auch künftig nicht direkt vom Bund finanziell entlastet. »Jetzt ist völlig unklar, ob und wie das Geld über die Länder an die Kommunen gelangen soll«, sagte Henneke. Es bestehe die Gefahr, dass die Länder die Kommunen nicht angemessen beteiligten.
Kanzlerin Merkel lobte hingegen die »gemeinsame Kraftanstrengung« in der Flüchtlingspolitik. Sachsens CDU-Ministerpräsident Stanislaw Tillich zeigte sich ebenfalls zufrieden. Für den Moment sei Ländern und Kommunen geholfen, ihren Aufgaben besser gerecht zu werden, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. »Immerhin über vier Milliarden Euro stehen dafür zur Verfügung, um die Menschen unterzubringen und eine Integration zu beginnen.« Das Geld reiche aber nur, wenn es gelinge, den Flüchtlingszustrom in den Griff zu bekommen. Auch Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig sprach von einer »tragfähigen Lösung für diese schwierige Herausforderung«.
»Wir sind jetzt dabei, die Dinge wieder etwas zu ordnen«, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in der ZDF-Sendung »maybrit illner«. »Außer Kontrolle geraten ist es mit der Entscheidung, dass man aus Ungarn die Menschen nach Deutschland holt« fügte er an. »Das war eine so große Zahl, dass es nicht mehr geordnet ging.« Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sah in den Beschlüssen vom Donnerstagabend eine »notwendige Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik«. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner begrüßte die Zusagen der Bundesregierung.
Laut Vereinbarung im Kanzleramt stellt der Bund den Ländern vom kommenden Jahr an eine Pauschale von 670 Euro pro Asylbewerber und Monat zur Verfügung. Angenommen sind dabei 800 000 Asylanträge mit einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit der Fälle von etwas mehr als fünf Monaten. Nach Worten Merkels übernimmt der Bund damit die Risiken für die Bearbeitungsprozesse und die Zahl der Asylbewerber.
Zudem stellt der Bund 500 Millionen Euro für den sozialen Wohnungsbau bereit sowie weitere 350 Millionen Euro zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Wie es am Abend hieß, erhalten die Länder auch Mittel für den Kita-Ausbau und die Familienpolitik. So sollen die freiwerdenden Mittel des Bundes aus dem vom Verfassungsgericht gekippten Betreuungsgeld dafür auf die Länder verteilt werden. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte, trotz der Aufwendungen für die Flüchtlinge »wollen wir es ohne neue Schulden schaffen«.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sagte, es sei ein deutliches Zeichen, dass der Bund dynamisch in die Finanzierung einsteigt. Die Einigung werde »dieser großen Herausforderung gerecht«, sagte der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sprach von einem »ganz hervorragenden Ergebnis«. Nun hätten die Bundesländer Planungssicherheit für ihre Haushalte. Für das laufende Jahr stellt der Bund seinen Worten zufolge zudem eine weitere Milliarde Euro zur Verfügung.
Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) begrüßte die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels. »Die Summe stimmt«, sagte sie am späten Donnerstagabend im WDR. Es gebe eine dauerhafte, strukturelle Entlastung für die Betreuung der Flüchtlinge. Das sei eine gute Nachricht für die Kommunen. Die vom Bund für 2016 zugesagten vier Milliarden Euro bezeichnete Kraft als »ordentliche Summe«.
Die Betreuung von Flüchtlingen in den Kommunen muss nach Einschätzung des Thüringer Flüchtlingsrates verbessert werden. Die derzeit vorgeschriebene Relation von einem Sozialbetreuer für 150 Flüchtlinge sei zu hoch. »Das funktioniert nicht«, sagte Ellen Könneker vom Thüringer Flüchtlingsrat in Erfurt. Ihre Organisation halte das Konzept der sozialen Betreuung für korrekturbedürftig und plädiere für eine Relation von einem Sozialarbeiter für 70 Menschen. Nach Angaben von Finanzministerin Heike Taubert (SPD) will das Land die für die Sozialbetreuung gezahlte Pauschale noch in diesem Jahr erhöhen. Erwartet wird, dass 2015 etwa 22 000 Flüchtlinge nach Thüringen kommen. Agenturen/nd
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