Das Diktat der Finanzkennziffer

Der Neoliberalismus der Konzerne ist ein Feind des Wissens, behauptet Colin Crouch. Der VW-»Skandal« gibt ihm Recht

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Nur 77 bis 100 Euro - mehr hätte es Experten zufolge nicht bedurft, um in Mittelklassewagen von Volkswagen größere Filter einzubauen, die höhere Schadstoffstandards eingehalten hätten. Technisch, so Peter Mock vom International Council on Clean Transportation, sei das kein Problem. Wenn es kein technisches Problem ist, was ist es dann? Der Journalist Jens Berger hat dafür diese Erklärung: »Nicht die Ingenieure, sondern die BWLer sind letztverantwortlich bei der Automobilkonstruktion.« Mit der deutschen Ingenieurskunst habe die heutige Automobilbranche nur noch in der PR zu tun. »Es regiert die globale BWL-Kunst.«

Obwohl wir die genauen Hintergründe des VW-Abgas-Skandals, der im Grunde keiner ist (dazu später), noch nicht kennen, ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Dominanz des betriebswirtschaftlichen Denkens, die wiederum lediglich ein Ausdruck des globalen Finanzmarktkapitalismus ist, den Schlüssel zur Erklärung bietet. Insbesondere dann, wenn man das neue Buch von Colin Crouch vor dem Hintergrund der jüngsten Enthüllungen über den VW-Konzern liest. Mehr noch: Die systematische Software-Manipulation des Stickoxid-Ausstoßes bei weltweit elf Millionen Autos erscheint als ein Musterbeispiel für Crouchs zentrale These in »Die bezifferte Welt«. Diese lautet in der Kurzform: Der Neoliberalismus ist ein Feind des Wissens - und elaborierter: Die neoliberale Logik, die alles einer Finanzmarktkennziffer unterordnet, okkupiert derzeit eine weitere Sphäre: die der Information und des Wissens.

Der britische Politikwissenschaftler Crouch, der mit seinem Buch »Postdemokratie« international bekannt wurde, belegt seine These zwar nicht mit einer systematischen empirischen Studie. Doch seine theoretischen Ausführungen und die Beispiele aus den Bereichen Finanzmarkt, Großkonzerne und öffentliche Verwaltung sind überzeugend.

Beispiel Großunternehmen: Ingenieure des Energiekonzerns BP wussten, dass die Ölförderung im Golf von Mexiko weitere Sicherheitsvorkehrungen nötig machen würde. Mehrmals warnten sie das Management. Doch dieses ließ sich von einer anderen Maxime leiten, der des kurzfristigen Profits. Das Resultat ist bekannt: Im April 2010 kam es auf der BP-Plattform »Deepwater Horizon« zu einer Explosion, bei der elf Menschen starben und riesige Teile des Meeres durch auslaufendes Öl verschmutzt wurden. Dass das Fachwissen von Ingenieuren, Geologen und anderen Experten in Unternehmen wie in staatlichen Aufsichtsbehörden dem Wissen der Finanzmanager nachgeordnet ist, zeige auch die Fukushima-Katastrophe. Crouchs Schlussfolgerung: »Finanzkennzahlen sind zu einer hochprivilegierten, alle anderen Informationen ausstechenden Erkenntnisform geworden, weil sie von entscheidender Bedeutung für Unternehmen wie Banken, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, Hedgefonds, Beteiligungsgesellschaften und andere finanzwirtschaftliche Institutionen sind, die vor allem der Profitmaximierung verpflichtet sind.«

Erkenntnisse, die sich auf die Automobilbranche übertragen lassen. Angesichts der Überkapazitäten in Europa hat sich die Auto-Industrie darauf verlegt, den globalen Kampf um Absatzmärkte zu verschärfen. Das geht einher mit einem enormen Kostendruck. Möglichst billig produzieren, die Preise niedrig halten, um so den Konkurrenten Marktanteile abzuknöpfen - das ist die Devise. Schließlich erwarten die Aktionäre und Anteilseigner satte Renditen. Konflikte zwischen Sicherheit, Umweltschutz und Zufriedenheit der Kunden und Einsparungen beim Materialeinkauf und der Produktion werden mithin oft zulasten der Käufer entschieden. Das Finanzmanagement setzt sich durch, der Kunde hat das Nachsehen, wenn etwa Einzelteile schneller verschleißen - von der Umwelt gar nicht zu reden.

Wie genau das Kalkül des VW-Managements aussah, als man die Manipulation in Auftrag gab, ist nicht bekannt. Anzunehmen ist, dass die Programmierung der Software günstiger war, als der Einbau von größeren Filtern und besseren Techniken. Möglicherweise hat man sogar eventuelle Strafzahlungen, wie sie jetzt drohen, eingepreist.

Dies ist Crouch zufolge zumindest bei Großbanken der Fall gewesen. Deutsche Bank, Barclays oder Citigroup hätten bei der Manipulation der Referenzzinssätze Libor und Euribor drohende Strafzahlungen gleich miteingerechnet. Der Extraprofit aus der Fälschung von Informationen sei so groß gewesen, dass abzüglich der Strafe immer noch ein gutes Geschäft winkte. Crouch stellt zudem fest, dass die tatsächlich erfolgte juristische Bestrafung der Banken ihrem Ruf kaum geschadet habe.

Anhand der Finanzsphäre, ein Musterbeispiel eines kaum regulierten Marktes, nimmt Crouch darüber hinaus ein zentrales Argument der Anhänger des Neoliberalismus auseinander. Ökonomen wie Friedrich von Hayek sind der Ansicht, dass der Markt am besten in der Lage sei, Wissen zusammenzufassen und auf eine Kennziffer - den Preis - zu reduzieren. Der Autor hält dagegen. Wenn das so sei, wie sei dann der Crash auf den Finanzmärkten 2007/08 zu erklären? »Der Markt brachte eben nicht das perfekte Wissen hervor; ganz im Gegenteil«, schreibt er.

Crouch nennt als traurigsten Befund seines Buches, dass es mit dem Vertrauen in vielen Bereichen rapide bergab geht. Das gilt besonders dann, wenn der Marktmechanismus in so sensible Bereiche wie die Gesundheit eindringt. In Großbritannien zum Beispiel wurde Ärzten eine Prämie für Demenzdiagnosen versprochen. Das Misstrauen, das durch die Dominanz von marktwirtschaftlichen Kriterien auch in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes erzeugt wird, ändere schließlich das Bild der Menschen von sich selbst.

Von einem Vertrauensverlust ist auch im VW-Fall die Rede. Doch trifft das zu? Vielen Autokäufern dürfte es egal sein, ob ihr Auto 80 Milligramm Stickoxid je Kilometer ausstößt oder mehr. Das mehr an Spritzigkeit und der geringere Spritverbrauch bei ausgeschalteter Abgasreinigung dürfte sogar in ihrem Sinne sein. Anders sehen das die umweltbewusste Öffentlichkeit und staatliche Aufsichtsbehörden - sofern sie sich ein gewisse Unabhängigkeit von der Industrie bewahrt haben. Sie sind es übrigens, die Crouch als weiteres Beispiel für seine These dienen, warum der Markt aus sich heraus nicht alle wichtigen Informationen liefern kann. Erst Wissenschaftler an Universitäten fördern das Wissen zutage, das den staatlichen Stellen als Grundlage zur Festlegung von Abgasrichtlinien dient.

Bei aller Skepsis gegenüber dem sich ausbreitenden deregulierten Markt, Crouch kritisiert Marktwirtschaften nicht an sich, sondern nur gewisse Formen. Diese nennt er den »Neoliberalismus der Konzerne«. So interessant seine Zuspitzung der Kritik auf Großkonzerne erscheint, so ist eine gewisse unterschwellige Apologie des freien, von Global Playern nicht monopolisierten Marktes nicht von der Hand zu weisen. Crouch ist sicher ein prononcierter Kritiker des Neoliberalismus, doch geht seine Kritik nicht sehr tief. Das wird überdeutlich, wenn es um die Frage der Alternativen geht. Mehr als einen Ausbau der Regulierungsbehörden und Inspektionsmaßnahmen hat er nicht im Angebot.

Und warum ist der vermeintliche VW-Skandal gar keiner? Weil Manipulation und die Verschleierung von Wissen und Informationen zum Alltag von Ökonomien entfesselter Märkte gehören. Und im Grunde ahnten wir das bereits. Mit VW und Crouch ist es zur Gewissheit geworden.

Colin Crouch: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Suhrkamp, 250 S., geb., 21,95 €.

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