Abduls Reise
Mit dem Smartphone auf der Flucht. Von Elsa Koester und Jan Brock
Abdul lernen wir in einem Hostel in Izmir kennen: Wir auf dem Rückweg von einer Reportage über Flüchtinge auf Lesbos, er auf der Flucht von Syrien nach Europa. Er ist 25, spricht sechs Sprachen und hat zwei Highschool-Abschlüsse. Ein Brain nennen wir ihn. Sein Heimatland hat Abdul verlassen, um seine Mutter von Dubai aus zu unterstützen. Jetzt kann er nicht mehr zurück. Der IS würde ihn umbringen, da ist er sich sicher. Also macht sich Abdul auf den Weg nach Schweden, wo Tanten, Onkel und Cousins auf ihn warten. Als er hört, dass wir Reporter sind, will er unbedingt seine Geschichte erzählen.
So wird Abdul zu unserem Flucht-Korrespondenten. Mit seinem Smartphone schickt er uns Fotos, Handyvideos, Textschnipsel: aus dem kleinen Schlauchboot nach Lesbos, aus Bussen, Lagern und von Fähren. Während unseres multimedialen Reportageprojekts gerät die Arbeitsteilung durcheinander. Nicht mehr wir berichten, sondern Abdul. Und während wir auf seine Beiträge warten, werden wir zu Fluchthelfern. Wir versorgen ihn mit aktuellen Informationen zu den Grenzen und überweisen ihm Geld. Vielleicht verändern wir damit die Geschichte, die wir begleiten wollten. Wahrscheinlicher aber ist, dass wir einfach ein Teil von Abduls Geschichte sind.
Schwimmwesten und ein Staatsbesuch: Griechenland
Auf den Basaren der türkischen Viermillionen-Stadt Izmir gibt es einen neuen Verkaufsschlager: Schwimmwesten. Die orangefarbenen sind der Klassiker. Helfen ein paar Stunden. Die Blauen sind schon seltener zu finden. Das sind teure Markenwesten. Aber angeblich die besten, sollen bis zu zwölf Stunden über Wasser halten. Abdul hat sich so eine besorgt. Von den Billigwesten rät er ab. Die Ausrüstung für Wassersport soll keine 30 Minuten vor dem Ertrinken retten.
In einer halben Stunde legt Abduls Schlauchboot ab. Seinen Schleuser hat er über Facebook gefunden. Sichere Überfahrt mit einem Neun-Meter-Schlauchboot, 45 Personen, steht in der Anzeige. Abduls Freunde Feras und Gaith entscheiden sich für andere Schleuser. Im Hostel kommt es zum Abschied. Abdul hat keine Angst, beteuert er. Und dann fließen doch die Tränen. Wir werden uns wiedersehen, Incha’Allah.
Die Männer am Strand tragen Pistolen in den Händen. Im Befehlston treiben sie Abdul und die anderen Geflüchteten in die Boote. Männer, Frauen, zehn kleine Kinder. Nur zehn Kilometer ist Lesbos von der türkischen Küste entfernt. Sieht aus wie ein Katzensprung. Trotzdem kentern immer wieder voll besetzte Boote. Wer schwimmen kann, schafft es manchmal noch bis Lesbos. Aber dass kleine Kinder auf den Inselfriedhöfen beerdigt werden, ist keine Seltenheit.
Abdul und seine Bootsgefährten haben Glück. Ohne Zwischenfälle erreichen sie den Strand von Lesbos. Jubel bricht aus. Ein Meer von Schwimmwesten erzählt von hunderten, tausenden ebenso glücklichen Vorgängern. Erleichtert werfen Abduls Weggefährten ihre dazu.
Die erste Euphorie der Ankunft legt sich schnell, als Abdul einen Hilferuf seiner Freunde erhält. Feras und Gaith treiben auf dem Mittelmeer, ihre Boote sind funktionsuntüchtig. Kurze Zeit später die Entwarnung: Die Bootsinsassen sind auf der griechischen Insel Chios angekommen, alle unverletzt. Thank God, sagt Abdul.
Inzwischen ist er im offiziellen Flüchtlingslager Moria angekommen. Die Zustände hier sind katastrophal. Nicht genug Essen, nicht genug Zelte, kaputte Toiletten und kaum medizinische Versorgung. So sieht es hier seit Jahren aus. Die SYRIZA-Regierung hat mit ihren leeren Staatskassen wenig ausrichten können. Aber wenn Premier Tsipras mit Österreichs Kanzler Werner Faymann vorbeischaut, wird schnell aufgeräumt. Abdul ist vor Ort, um sich das Spektakel »Staatsbesuch« anzuschauen. Angenehm leer sind die Lager. Plötzlich ist genug Platz für alle da.
Abdul entscheidet sich, Pikba aufzusuchen: das selbstorganisierte Lager der Insel. Europäische Freiwillige sorgen hier für eine gute Versorgung, unterstützt durch Spenden. Ein Ort der Ruhe nach der gefährlichsten Fluchtetappe über das Meer und vor der beschwerlichen Reise durch den Westbalkan. Auch Abdul ruht sich aus. Noch neun Tage liegen vor ihm.
Eine Fähre der griechischen Regierung bringt ihn am nächsten Tag weiter nach Athen. Hier wollte er eigentlich Feras und Gaith treffen. Doch dafür ist keine Zeit. »Go, go!« ruft die Polizei, die Flüchtlinge werden aus der Fähre in den Bus getrieben. Er bringt sie nach Evzoni nahe der mazedonischen Grenze.
Zu Fuß geht es weiter nach Mazedonien. Noch vor einigen Wochen führte diese Route durch Tränengas, Polizeiknüppel und Blendgranaten. Die mazedonische Regierung hinderte die Flüchtlinge an der Durchreise. Doch für die Flüchtlinge gab es keinen anderen Weg. Also haben sie ihn sich genommen.
Wie überall entlang Abduls Weges belagern fliegende Händler den Straßenrand. Von der dringend benötigten Sim-Karte über Wasser bis zum Schlafsack wird alles geboten. Noch kann Abdul sich auf seine Reisekasse verlassen. 600 Euro hat er noch dabei, aufgeteilt in zwei Geldbörsen. Das soll reichen - bis nach Malmö. Hat er gehört.
Warteschlangen und Husten: Die Westbalkanroute
Mit dem Bus geht es durch Mazedonien, dann steht Abdul wieder vor einer Grenze. Hier ist die mazedonische Polizei brutal. Sie schreit, hetzt und prügelt die Flüchtlinge Richtung Serbien. 18 Kilometer müssen sie laufen, sechs Stunden. Der Weg ist lang und beschwerlich. Für alte Menschen und kleine Kinder kaum zu bewältigen. Auch Abdul ist erschöpft. Seit Lesbos hat er nicht richtig geschlafen. Die feuchte Kälte dringt ihm in die Glieder.
In der Hilfe für seine Weggefährten findet er Ablenkung. Auf der Reise wird er zum Dolmetscher. Er spricht Arabisch, Französisch, Hebräisch, Griechisch, Norwegisch und Englisch. Außerdem versucht er sich als Babysitter und Pfleger von Alten und Kranken. »Da kann man einfach nicht anders«, sagt Abdul, »immer und überall wird Hilfe benötigt. Wie soll man da schlafen?« Abdul hat seine Art gefunden, mit der Situation umzugehen. Seinen Panzer. Wer sich um andere kümmert, spürt die eigenen Sorgen nicht.
In Serbien nimmt Abdul den Zug zur kroatischen Grenze. Schnell findet er sich im Grenzlager Tovarnik wieder. Zusammen mit 4000 anderen Flüchtlingen wartet er in der Kälte auf seine Registrierung. Nach sieben Stunden in der Schlange weiß die EU, dass Abdul kommt, und Abdul weiß, dass er in Kroatien ist. Erst am nächsten Tag wartet ein Bus nach Ungarn auf ihn. Ein ganzer Tag in diesem Lager, ohne Strom, ohne Decken - Abdul kann nicht mehr. Aber was soll er machen? Ein Zurück gibt es nicht. Er schaut sich um. Und trifft auf Vania, eine Anwohnerin, die im Lager aushilft.
»Die Freiwilligen sind die einzigen, die die Versorgung hier am Laufen halten«, sagt Abdul, »sie versuchen das Beste vom Besten, und damit retten sie uns.« Abdul erzählt Vania von Ferat und Gaith. Seit Griechenland hat er nichts mehr von ihnen gehört. Er macht sich Sorgen. Vania sucht über sechs Stunden lang nach den Freunden, schaut in jedes Zelt, fragt überall herum, aber vergebens. Immerhin kann sie Abdul mit Zigaretten weiterhelfen, mit einem Sandwich und einer Decke, die sie von zu Hause holt. Und sie leiht ihm ihr Handy. Er ruft uns an. Am Telefon bricht er zusammen. »Es ist alles furchtbar hier, wenn ihr das sehen könntet. Es ist schmutzig, es ist kalt. Und hier sind Kinder!« Für einen Moment verliert Abdul seine Zuversicht. Es bleibt nur noch ein Wunsch: Das alles soll vorbei sein. Egal wie.
Als er in einem Zelt endlich Ruhe findet und einschläft, werden ihm 300 Euro geklaut. Geld, das er dringend für seine Reise benötigt. Nun hat er nur noch seine Notreserve, die er versteckt gehalten hat. Aber das ist zu wenig, weiß Abdul. So wird er es nicht nach Malmö schaffen.
Am nächsten Tag geht es endlich weiter. Die Grenze zwischen Kroatien und Ungarn ist noch offen. Das soll sich bald ändern. Schon jetzt sieht Abdul den kilometerlangen Stacheldrahtzaun, der die Flüchtlinge an der Weiterreise hindern wird. Doch er hat Glück. Noch lässt das Militär Abdul und seine Weggefährten passieren.
Warme Duschen und ein Wiedersehen: Österreich
Ein Bus bringt Abdul problemlos durch Ungarn nach Nickelsdorf. Am Grenzübergang wartet das UNHCR mit Decken und warmer Kleidung. Die Polizei ist freundlich und der Bus nach Graz steht schon bereit. Abdul atmet auf. Zum ersten Mal seit seiner Abfahrt in Izmir fühlt er sich sicher.
In Graz folgt die nächste Überraschung: Funktionierende Sanitäranlagen! Warme Duschen! Und Strom! Endlich Energie laden. Und das gilt wortwörtlich. Handy an die Steckdose, heiß duschen, etwas Warmes essen. Als Abdul uns erreicht, hören wir seine Erleichterung. »Ich bin in Österreich!«, jubelt er. Und entscheidet sich zur Weiterfahrt nach Wien. Ein Umweg, aber die Route hält er für sicherer.
Am Wiener Hauptbahnhof empfängt ihn das gewohnte Bild: Tausende Flüchtlinge drängen sich auf den Bahnsteigen, darunter überwältigend viele Kinder. Ein ohrenbetäubender Krach. Trotzdem findet Abdul eine Ecke, um sich auszuruhen. Und schläft ein.
Als er aufwacht, ist seine zweite Geldbörse weg. Jetzt hat er keinen Cent mehr. Abdul wird schlecht. Wie soll er jetzt nach Schweden kommen? Panisch läuft er durch das Chaos, auf der Suche nach jemandem, der ihm weiterhelfen kann. Er ruft uns an und fragt nach Geld. Doch in der Hektik weiß er selber nicht, wie wir es ihm zukommen lassen können. Er will sich erkundigen. Wir verabreden uns für später.
Plötzlich stehen Feras und Gaith vor ihm. Seine Freunde, auch sie haben es nach Wien geschafft. Abdul kann es nicht fassen. Die drei liegen sich in den Armen. Weinend ruft er Vania an. Die Helferin im Grenzcamp von Tovarnik hatte für ihn stundenlang nach den Freunden gesucht. Am Telefon weint auch sie vor Freude über das glückliche Wiedersehen.
Endlich ist Abdul nicht mehr allein. Feras und Gaith werfen ihr Geld für ihn zusammen. Die Weiterreise ist erst einmal gesichert, zumindest nach Deutschland. Was bleibt, ist die Angst vor der Registrierung. Gerüchte gehen um: Der Weg über Frankfurt soll sicherer sein als über München. Andere raten von der Fahrt über Passau ab. Unsicher ruft Abdul uns an. Wir recherchieren. Und berichten ihm von der Überforderung der deutschen Polizei, aber auch von den häufigen Kontrollen in Bayern. Wir überlegen, unsere Fluchthilfe konkreter zu machen. Kennen wir jemanden, der Abdul über die Grenze bringen könnte?
Zwei Willkommen und ein Bauchtanz: Deutschland
Schließlich entscheiden sich Abdul und seine Freunde für den Weg der Vielen. Mitschwimmen in der Masse. Ein Zug bringt sie nach Passau. Wie sich zeigt, war das eine gute Idee. »You are welcome!« sind die ersten Worte, die sie in Deutschland von der Polizei hören. Abdul ist begeistert. Der Polizist lässt die Geflüchteten gehen: Er wünscht ihnen eine gute Weiterfahrt nach Schweden. Und rät dazu, sich zu beeilen.
Die drei Jungs lassen sich das nicht zweimal sagen. Sie fahren weiter Richtung Norden und landen in St. Andreasberg, mitten im Harz. Noch einmal erschrecken sie. Ein Polizist kommt angelaufen und fragt mit strenger Stimme, was sie hier wollen. »Weiter nach Schweden«, sagt Abdul. »Na dann müsst ihr hier weg«, rät der Polizist. Richtung Lübeck. Im Zug lässt Abdul seiner Freude dann freien Lauf. Er tanzt und singt für die Mitfahrenden. Die lassen sich anstecken und lachen mit ihm. Sie alle haben es geschafft.
In Lübeck treffen die Freunde auf Freiwillige des Flüchtlingsforums. Sie werden zum linken Zentrum »Walli« geführt, umfunktioniert zum selbstorganisierten Flüchtlingslager. Eine Helferin besorgt ihnen Tickets für die Fähre nach Malmö. Abul hat jedoch kein Geld mehr. Noch einmal brechen wir aus unserer journalistischen Rolle aus. Wir schicken ihm 75 Euro.
Auf der Fähre ist Abdul erneut überrascht: In der Kabine gibt es richtige Betten, mit Kissen, Decken und Badezimmer! Was für ein absurder Kontrast zum lebensgefährlichen Schlauchboot nach Lesbos. So einfach könnte die Reise also auch sein.
Und dann: Schweden! Das Ziel ist erreicht. Auch hier werden sie willkommen geheißen. Abdul erhält wie alle Flüchtlinge eine kostenlose Sim-Karte. Mit ihrem syrischen Pass können sie außerdem kostenlos Bus und Bahn fahren. Endlich angekommen.
Doch Abdul weiß, dass die Geschichte kein Happy End hat. Nachts holen ihn die Bilder seiner Reise ein. Freunde aus Lesbos schicken ihm Fotos von einem ertrunkenen Kind. Das Leid an den EU-Außengrenzen hat kein Ende. Abdul beschließt, Freiwilliger zu werden, um Flüchtlingen zu helfen. Da wird ihm klar, dass er Schweden nicht ohne weiteres verlassen kann. Die Sehnsucht packt ihn, nach seinem Heimatland Syrien, nach seiner Mutter und seinem Bruder. Über sechs Jahre hat er sie nicht mehr gesehen.
Am Telefon fragen wir ihn nach den Eindrücken seiner Flucht. Was muss sich ändern? »Stoppt den Krieg in Syrien«, sagt Abdul bestimmt. Als er weiterspricht, bricht seine Stimme. »Ich will zurück in mein Land.«
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