Hat Einstein gemogelt?

Physiker werfen neues Licht auf die Geschichte der Formel E = mc². Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie ist vermutlich die berühmteste Formel der Welt. Man findet sie auf Briefmarken, Tassen und T-Shirts, aber auch als Grafitto an Mauern und Hauswänden: E = mc². In Worten ausgedrückt: Die Energie E eines Körpers ist gleich dem Produkt aus seiner Masse m und dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit c.

Gewöhnlich wird die Entdeckung dieses Zusammenhangs Albert Einstein zugeschrieben. 1905 veröffentlichte dieser in den »Annalen der Physik« einen dreiseitigen Aufsatz mit dem Titel »Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?«, in dem es explizit heißt, dass die Masse eines Körpers ein Maß für dessen Energieinhalt sei. Und weiter erklärte Einstein: »Gibt ein Körper die Energie E in Form von Strahlung ab, so verkleinert sich seine Masse um E/c².«

Hinweise auf andere Forscher finden sich in dem Aufsatz nicht. Dabei hatte der österreichische Physiker Friedrich Hasenöhrl bereits 1904 eine Masse-Energie-Formel abgeleitet, die sich von der Einsteinschen nur um einen Faktor unterscheidet. Warum ist diese Tatsache in der Wissenschaftsgeschichte weithin unbekannt geblieben? Immerhin hatte auch Hasenöhrl seine Erkenntnisse in drei Aufsätzen in den »Annalen der Physik« dargelegt. Sollte Einstein das tatsächlich entgangen sein? Oder hatte der Schöpfer der Relativitätstheorie einen anderen Grund, über Hasenöhrls Beitrag zum Masse-Energie-Problem zu schweigen? Dieser Frage sind unlängst die US-amerikanischen Physiker Stephen Boughn und Tony Rothman nachgegangen (arxiv.org/ pdf/1108.2250) - mit bemerkenswerten Ergebnissen.

Zunächst weisen sie darauf hin, dass die Geschichte der Formel E = mc² mindestens bis in das Jahr 1881 zurückreicht. Damals hatte der britische Physiker Joseph John Thomson in einer Rechnung gezeigt, dass ein bewegter geladener Körper nicht nur die ihm eigene Trägheit besitzt, sondern auch jene des von ihm erzeugten elektromagnetischen Feldes. Somit wäre die Masse einer bewegten Ladung größer als die einer ruhenden. 1889 berechnete Thomsons Landsmann Oliver Heaviside diese Massendifferenz, die man später elektromagnetische Masse nannte, anhand einer geladenen Kugel. Dabei gelangte er zu der Formel m = (4/3)E/c², in der E für die Energie des umgebenden Feldes steht. Die deutschen Physiker Wilhelm Wien und Max Abraham bestätigten dieses Ergebnis und veröffentlichten die gleiche Masse-Energie-Relation, die wegen des Faktors 4/3 alles andere als elegant aussieht. Da das Konzept der elektromagnetischen Masse überdies ein sich bewegendes, geladenes Objekt voraussetzt, ist die Formel nicht auf jegliche Materie anwendbar.

Eine weitere viel beachtete Arbeit legte im Jahr 1900 der französische Physiker Henri Poincaré vor, dessen Vorarbeiten zur Speziellen Relativitätstheorie Einstein später ausdrücklich würdigte. Poincaré zeigte, dass zwischen der Energiestromdichte und der Impulsdichte eines elektromagnetischen Feldes eine Beziehung besteht, die sich so umformen lässt, dass man die Formel E = mc² erhält. Allerdings gilt das nur für das elektromagnetische Feld. Zudem sei Poincaré nicht in der Lage gewesen, meint Rothman, »Energie und Masse irgendeines realen Körpers miteinander in Verbindung zu setzen«.

Den nächsten Versuch wagte vier Jahre später Friedrich Hasenöhrl. Der Sohn eines Gerichtsadvokaten wurde am 30. November 1874 in Wien geboren und studierte an der dortigen Universität Mathematik und Physik. Einer seiner Lehrer war Ludwig Boltzmann, der Begründer der statistischen Thermodynamik. Als dieser 1906 starb, übernahm der 32-jährige Hasenöhrl dessen Ordinariat für Theoretische Physik an der Universität Wien. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Hasenöhrl freiwillig zum Militär. Zunächst gehörte er als physikalisch-technischer Referent dem Festungskommando Krakau an, später ließ er sich auf eigenen Wunsch an die Front versetzen, wo er am 7. Oktober 1915 in der Provinz Trient durch einen Granatsplitter am Kopf verwundet wurde. Kurz darauf starb er, im Alter von 40 Jahren.

Hasenöhrls wichtigster Beitrag zum Masse-Energie-Problem bestand in einem Gedankenexperiment, in dem er einen beschleunigten, mit elektromagnetischer Strahlung gefüllten Hohlraum untersuchte. Mit Hilfe der Thermodynamik gelangte er dabei zu der Erkenntnis, dass die Hohlraumstrahlung die Masse m = (8/3)E/c² besitzt. Doch seine Rechnung enthielt einen Fehler, wie zuerst Max Abraham bemerkte. Daraufhin korrigierte Hasenöhrl die Formel zu m = (4/3)E/c². Für seine Forschungsarbeiten wurde ihm 1905 auf Vorschlag Boltzmanns der Haitinger-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften verliehen.

Im selben Jahr präsentierte Einstein seine berühmte Formel E = mc². Und anders als Hasenöhrl hatte er diese mittels speziell-relativistischer Überlegungen gewonnen. Außerdem war seine Formel universell auf alle Energieformen anwendbar. Diesen Vorzug besaßen die zuvor abgeleiteten Masse-Energie-Relationen nicht.

Obwohl Einstein aus bis heute ungeklärten Gründen zu Hasenöhrls Arbeiten schwieg (und gelegentlich darauf bestand, dass er die Formel E = mc² entdeckt habe), kam es zwischen den beiden nicht zu einem Prioritätsstreit. 1911 lernten sie sich erstmals persönlich kennen - auf dem Solvay-Kongress in Brüssel. Hasenöhrl hegte schon damals eine tiefe Bewunderung für Einstein. Und er war einer der Ersten, der die Bedeutung der Speziellen Relativitätstheorie erkannte und darüber Vorlesungen hielt.

Nach Hasenöhrls Tod gerieten dessen Arbeiten zur Hohlraumstrahlung in Vergessenheit. Sie seien bestenfalls noch von historischem Interesse, meinte 1921 der spätere Mitbegründer der Quantenmechanik Wolfgang Pauli. Ein Irrtum. Bereits in den 20er Jahren wurde Hasenöhrl von einigen Vertretern der sogenannten Arischen Physik »wiederentdeckt«. Deren Ziel bestand in erster Linie darin, Einsteins Leistungen zu diskreditieren. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte dabei der Physik-Nobelpreisträger Philipp Lenard, ein notorischer Antisemit und früher Anhänger Hitlers, der Einstein vorwarf, von Hasenöhrl abgeschrieben zu haben.

Vermutlich hat auch diese Episode mit dazu beigetragen, dass sich nach dem Krieg kaum jemand mehr für das Werk des österreichischen Physikers interessierte. Rothman bedauert dies. Wie alle Vorläufer Einsteins verdiene es auch Hasenöhrl, wegen seines Beitrags zum Masse-Energie-Problem gewürdigt zu werden. Ein anderer Großer der Physik hatte dies bereits im Jahr 1909 getan: Max Planck. In seinen Vorlesungen an der New Yorker Columbia University erklärte er: »Darauf, dass die Hohlraumstrahlung Trägheit besitzt, hat zuerst Friedrich Hasenöhrl aufmerksam gemacht.«

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