Das Wunder von Nepal
Ein Baby überlebte 22 Stunden unter den Trümmern, aber Tausende wohnen im Himalaya-Staat noch in Zelten
Als Soldaten den staubbedeckten Sonish vorsichtig aus den Trümmern zogen und ihn wie ein Heiligtum in die Höhe streckten, gab das vier Monate alte Baby Millionen Menschen Hoffnung. Am 25. April um 11.56 Uhr hatte das schwerste Beben seit 1934 in Nepal rund 900 000 Gebäude einstürzen lassen. Auch das Haus, in dem Sonish mit seiner Familie lebte, hielt den Erschütterungen nicht stand, begrub das Baby unter sich. Bei dem Beben der Stärke 7,8 starben im Himalaya-Staat rund 8800 Menschen, über 22 000 wurden verletzt. Doch Sonish wurde nach 22 Stunden fast unversehrt geborgen.
Besuch beim berühmtesten Baby Nepals: Zufrieden trinkt Sonish an der Brust seiner Mutter. Auch als die Soldaten ihn aus den Trümmern befreiten, hatte er zunächst nur einen Wunsch: Milch! »Nie zuvor hat Sonish so gierig getrunken. Nie zuvor habe ich so vor Glück geweint«, erzählt Rasmila Awal, während sie ihren Sohn stillt. Heute und hier in Bhaktapur, der Königstadt 30 Kilometer östlich der Metropole Kathmandu, ist Sonish sechs Monate nach dem verheerenden Erdbeben ein glückliches und gesundes Baby, auch wenn er jetzt, kurz vor Einbruch des Winters, wie viele Nepalesen hustet und leicht verschnupft ist.
Bevor sie die Wiege erreichte, brach das Haus über den Kindern
zusammen.
Als Sonish satt ist, schnappt sich seine ältere Schwester Soniya ihren milchselig strahlenden kleinen Bruder und drückt ihm einen dicken Kuss auf die Stirn. Vor einem halben Jahr war sie mit ihm alleine zu Hause. Nachdem seine Mutter ihn gewaschen und mit Öl massiert hatte, war Sonish in seiner Wiege eingeschlafen. Rasmila wollte die Gelegenheit nutzen und Essen für die Familie einkaufen. Soniya sollte währenddessen auf ihren kleinen Bruder aufpassen. Als die Erde bebte, rannte die Zehnjährige zunächst in Panik zur Tür der Wohnung im zweiten Stock. »Mein Bruder«, schoss es ihr dann durch den Kopf. Soniya rannte zurück. Doch bevor sie die Wiege erreichte, brach das Haus über den beiden zusammen.
Als Sonishs und Soniyas Mutter Minuten später zurückkam, lag dort, wo noch vor wenigen Minuten ihr Haus stand, nur noch ein riesiger Haufen Steine. »Ich wusste, dass meine Kinder darunter lagen. Aber ich stand so sehr unter Schock, dass ich nicht mehr wusste, ob ich noch lebte oder schon tot war«, erinnert sich die Mutter.
Sofort begann sie, mit bloßen Händen in den Trümmern zu wühlen. Sie spürte nicht, dass ihre Hände bluteten, sie hörte ihre eigenen Schreie nicht. Bald erreichte auch ihr Mann Shyam die Ruine. Der 34-Jährige hatte als Busfahrer gearbeitet, als das Haus über seinen beiden Kindern zusammenbrach. Mit der Kraft der Verzweifelten räumten die Eltern Steine des vierstöckigen Gebäudes zur Seite.
Nach vier Stunden konnten sie zusammen mit Nachbarn schließlich ihre Tochter aus den Trümmern ziehen. Soniya war nur leicht verletzt. Von ihrem kleinen Bruder hingegen war nichts zu sehen - doch plötzlich drang ein leises Wimmern aus dem Schutt. »Während wir gewühlt haben, habe ich meinem Baby immer wieder zugerufen: ›Halt durch! Mama und Papa holen dich da raus‹«, erinnert sich Sonishs Mutter. Aber irgendwann erstarb das Weinen. Um 21 Uhr, neun Stunden nach dem Beben, gaben die zu Hilfe gerufenen Soldaten die Hoffnung auf. Sonishs Mutter nicht. »Nur wenn mir jemand mein totes Kind gezeigt hätte, hätte ich aufgegeben«, sagt die 35-Jährige.
Und tatsächlich drang am nächsten Morgen wieder Wimmern aus den Trümmern. Zusammen mit Soldaten und Nachbarn gruben Sonishs Eltern weiter. 22 Stunden nachdem ihr Haus eingestürzt war, hielten sie schließlich ihren Sohn erstmals wieder in Händen. »Er hatte nur eine Schramme an der Stirn und ein kleine Wunde am Oberschenkel. Ein Stuhl und ein Schrank waren auf seine Wiege gefallen. So hatte er Luft zum Atmen und wurde nicht von den Steinen erschlagen«, berichtet seine Mutter.
In den Wochen nach dem Beben lebte sie mit Sonish, Soniya und ihrem Mann unter einer Plane auf dem Gehsteig, schräg gegenüber vom Steinhaufen, aus dem ihr Sohn gerettet worden war. Vor der Notunterkunft bildeten sich oft lange Schlangen von Menschen, die das »Wunderbaby« berühren, so an seinem Segen teilhaben wollten. Auch Fernsehteams und Reporter aus aller Welt suchten den berühmtesten Überlebenden der Katastrophe auf. Die Berichte nepalesischer Zeitungen hat seine Mutter ausgeschnitten. Sobald Sonish alt genug ist, will sie ihm erklären, dass er das bekannte Baby aus dem Staub ist. »Überall kennen die Menschen jetzt meinen Sohn«, sagt sie stolz. Sonish ist der unfreiwillige Ruhm egal. Zufrieden ist er in ihrem Arm eingeschlafen.
Sonish soll später auch Leben retten.
Am 15. Dezember wird er ein Jahr alt. Zur Feier will seine Mutter dann auch die Soldaten einladen, die ihren Sohn retteten. »Wir werden jedes Jahr zwei Mal feiern. Ein Mal am Tag seiner Geburt und ein Mal am Tag seiner Rettung«, sagt die Mutter von Nepals berühmtestem Baby.
Pläne für Sonishs Zukunft hat sie auch schon. Ihr Sohn soll Arzt werden. Wegen schwerer Komplikationen verbrachte Rasmila die letzten drei Monate ihrer Schwangerschaft mit Sonish im Bauch im Krankenhaus. Als er schließlich per Notkaiserschnitt zur Welt kam, wären Mutter und Kind beinahe gestorben. »Beim Erdbeben hat Gott meinen Sohn gerettet, bei der Geburt waren es die Ärzte. Sonish soll später auch Leben retten«, sagt die gelernte Schneiderin.
Aus dem Jäckchen, das er bei seiner Rettung trug, ist Sonish mittlerweile rausgewachsen. Seine Mutter hat es gründlich gewaschen und einer Freundin geschenkt, die gerade ein Baby bekommen hat. »Sonishs Kleidung soll auch diesem Kind Glück bringen. Und seine Geschichte soll unserem ganzen Land Hoffnung machen«, sagt die stolze Mutter.
Dabei fiel es auch ihr manchmal schwer, die Hoffnung nicht aufzugeben. In der provisorischen Notunterkunft hatten Hitze, Feuchtigkeit, Staub, Schlamm und die kalten Nächte Sonish zugesetzt. In den Wochen nach dem Beben war er deshalb mehrfach krank, hatte oft Fieber. Weil das Haus, in dem seine Eltern gewohnt hatten, ohne Baugenehmigung errichtet worden war, hat die Familie vom Staat keinerlei Entschädigung erhalten. »Wir haben unsere Kinder aus den Trümmern retten können, aber alles andere haben wir verloren«, sagt Sonishs Mutter.
Genau wie Sonish wurde auch Divya Shresta während des Erdbebens verschüttet. Sie saß am Vormittag des 25. April mit Bekannten im vierten Stock ihres Elternhauses, als das sechsstöckige Gebäude in der nordostnepalesischen Stadt Mankha nahe der Grenze zu China wie ein Kartenhaus zusammenfiel. »Die vier Kinder neben mir waren sofort tot. Mit einem ebenfalls verschütteten Mann konnte ich am Anfang noch reden, aber bald antwortete er nicht mehr«, erinnert sich die Studentin.
Wie soll ich jetzt bloß einen Mann finden?
Zunächst dachte sie, dass ihr Tränen übers Gesicht laufen, doch dann merkte sie, dass Blut aus einer großen Wunde an ihrer Stirn quoll. Bewegen konnte sie sich nicht. Ihr Kopf war zwischen Steinen eingeklemmt, ihr linker Arm lag unter einer Betonstrebe. Divya konnte nur rufen. Nach drei Stunden drang schließlich ein Soldat zu ihr vor. Er zerrte an der jungen Frau, bekam sie jedoch nicht frei. Als er ihr sagte, dass er den eingeklemmten Arm abtrennen müsse, um sie zu befreien, schrie Divya. Dennoch nahm der Soldat eine alte Sichel und amputierte ihr den Arm oberhalb des Ellenbogens. Ohne Schmerzmittel. Erst drei Tage später erreichte die schwer verletzte Nepalesin das Krankenhaus im 80 Kilometer entfernten Kathmandu. Niemand hatte mehr damit gerechnet, dass sie überlebt - vor allem sie selbst nicht.
»Guck mal, so sah ich früher aus«, sagt Divya und zeigt Fotos von vor der Katastrophe auf ihrem Smartphone. Auf allen Bildern, die sie nach dem Beben gemacht hat, versteckt sie sorgfältig den Armstumpf. »Ich bin doch noch unverheiratet. Wie soll ich jetzt bloß einen Mann finden?«, fragt die 22-Jährige. Immer wieder greift sie sich an den vernarbten Stumpf. Weil er juckt, weil er wehtut, weil sie nicht begreifen kann, dass ihr Arm nicht mehr da ist.
Sonish hingegen wird später nur eine kleine Narbe an seinem linken Oberschenkel an den Tag erinnern, an dem er als vier Monate altes Baby beinahe gestorben wäre. Mittlerweile ist er mit seiner Familie im Haus von Freunden untergekommen. Niemand weiß, ob deren leicht in Mitleidenschaft gezogenes Backsteingebäude noch ein weiteres Beben überstehen wird. Aber jeder weiß: Wunder wiederholen sich nicht.
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