Dublin-Verfahren: Merkel in Bedrängnis
Kanzlerin verteidigt Rückkehr zum Dublin-Verfahren / Rotes Kreuz fordert Entschädigung für Flüchtlingshelfer / Etatausschuss beschließt keine Neuverschuldung für 2016
Merkel verteidigt Rückkehr zum Dublin-Verfahren
In der Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Rückkehr zum sogenannten Dublin-Verfahren verteidigt. Dies sei »ein Schritt, um zu einer fairen Lastenverteilung« in der EU zu kommen, sagte Merkel am Freitag nach einem Gespräch mit dem australischen Premierminister Malcolm Turnbull in Berlin. Die Länder an den EU-Außengrenzen könnten die »Last« bei der Aufnahme von Flüchtlingen nicht alleine tragen, doch zugleich könnten diese »auch nicht die Last weniger teilen«.
Die Äußerungen der Kanzlerin sind deshalb interessant, da es noch am Mittwoch hieß, Merkel habe von der umstrittenen Änderung nichts gewusst, de Maizière haben eigenmächtig in seiner Funktion als Bundesinnenminister gehandelt. Auch aus den Reihen des Koalitionspartners waren vermehrt Stimmen laut geworden, die infrage stellten, wer in der Bundesregierung eigentlich noch über die Richtlinienkompetenz verfüge.
Merkel hob in ihrer hervor, es gebe auf diesem Weg »noch viele Hürden zu überwinden«. Es müsse gelingen, wie beschlossen 160.000 Flüchtlinge aus südlichen EU-Staaten in der Europäischen Union zu verteilen.
Mit Blick auf die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge sagte die Kanzlerin, das Dublin-Verfahren gelte für all die, bei denen eine Registrierung in einem anderen EU-Land erfolgt sei. Eine solche Registrierung sei derzeit »leider« an den EU-Außengrenzen »viel zu selten der Fall«. Daher sei die Zahl der betroffenen Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, »ja auch gering«.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte zuletzt mit der Wiederanwendung des Dublin-Verfahrens für Syrer für Irritationen gesorgt. Mit den Dublin-Regeln will er dafür sorgen, dass syrische Flüchtlinge soweit wie möglich in andere EU-Länder zurückgeführt werden. Das überlastete Griechenland ist davon ausgenommen. Nach dem Dublin-Abkommen ist für das Asylverfahren der EU-Staat zuständig, in dem der Flüchtling zuerst registriert wurde.
Die Kanzlerin bekräftigte zudem, dass die EU-Außengrenzen besser geschützt werden müssten. Die wenigen Kilometer Meeresweg zwischen der Türkei und dem EU-Land Griechenland seien derzeit »in der Hand von Schleppern und Schmugglern«. Dies solle »in Kooperation mit der Türkei« geändert werden. Merkel sah dies auf einem guten Wege.
Flüchtlingsamts-Chef Weise weist Vorwürfe von Mitarbeitern zurück
Der Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Frank-Jürgen Weise, hat die hausinterne Kritik an den Asylverfahren zurückgewiesen. In einem Brandbrief hatten Mitarbeiter eine Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien bei den beschleunigten Asylverfahren für bestimmte Flüchtlingsgruppen beklagt. Wenn das Innenministerium diese Leitlinie vorgebe, seien die Verfahren gesetzlich und nicht regelwidrig, betonte Weise am Freitag in Nürnberg.
»Ich sehe, dass die Beschäftigten die ganze Zeit schon und noch jetzt unter Umständen arbeiten müssen, die nicht akzeptabel sind«, gab Weise zu. Die Ursache der Probleme seien jedoch Versäumnisse in der Vergangenheit: »Warum hat man denn so lange unter Bedingungen gearbeitet, die nicht erfolgsfähig waren? Zu wenig Personal, schlechte Arbeitsprozesse, schlechte Informationstechnologie?« Er sei sich sicher, dass er sich mit den Mitarbeitern schnell einig werde und auch erkannt werde, »dass ich einen Beitrag leisten kann, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und das Bundesamt wieder erfolgreich zu machen«.
Bundesregierung hält grundsätzlich an Familiennachzug fest
Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) hat erneut versichert, dass es für anerkannte Flüchtlinge auch weiterhin einen Anspruch auf Familiennachzug gibt. »Wir sind uns alle einig, dass jemand, der wirklich ein Flüchtling ist, der Asylanspruch hat oder unter die Flüchtlingskonvention fällt, der hat einen Anspruch auf Familiennachzug«, sagte der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung »Maybrit Illner«. Dieser sei allerdings angesichts der Bearbeitungszeiten bei den Anträgen nicht in jedem Fall sofort einzulösen.
Altmaier hob zugleich hervor, es werde Einschränkungen beim Familiennachzug für die Menschen geben, die allein deshalb subsidiären Schutz erhielten, »weil man sie nirgendwo zurückschicken kann«. In diesen Fällen solle der Nachzug ausgesetzt werden. Dies hatte die Koalition vergangene Woche vereinbart. In der Bundesregierung wird seit Tagen über die Regelungen zum Familiennachzug debattiert. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will den Nachzug von Familien bei syrischen Flüchtlingen begrenzen. Er hatte zunächst angekündigt, Flüchtlingen aus Syrien grundsätzlich wieder den »subsidiären« Schutzstatus zu geben und den Familiennachzug für sie auszusetzen. Nach Irritationen in der Koalition deswegen hatte der Minister die Anweisung aber vorerst kassiert. Geklärt werden soll die künftige Vorgehensweise nun auf der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern Anfang Dezember.
Unterdessen spricht sich die Bevölkerung in einer Umfrage des ZDF-Politbaormeters über alle Parteigrenzen hinweg für eine Beibehaltung des Familiennachzugs aus. Dieses Recht befüworten 63 Prozent, während es 31 Prozent ablehnen. Mit Ausnahme der rechtspopulistischen AfD (57 Prozent Ablehnung) findet sich bei allen anderen Parteien eine deutliche Mehrheit.
Wiedereinsetzung von Dublin: DGB befürchtet Herabstufung von Syrern
Der Deutsche Gewerkschaftsbund befürchtet durch die Wiedereinsetzung der Dublin-Regelung eine Status-Verschlechterung für syrische Flüchtlinge. An den Einreisezahlen werde dies nichts ändern, sagte der Migrationsexperte des DGB, Volker Roßocha, dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Freitag. Er sei aber damit zu rechnen, »dass in diesem Zug der Schutzstatus verringert wird für die Menschen, die über andere EU-Länder eingereist sind«, ergänzte er. Sie könnten nur noch subsidiären Schutz bekommen - »mit all den Konsequenzen beispielsweise für den Familiennachzug oder die Eingliederung in den Arbeitsmarkt«.
Nach der Dublin-Regelung müssen Flüchtlinge in dem Land untergebracht werden, über das sie in die EU eingereist sind. Im August setzte Deutschland diese Regelung aufgrund der Notlage der Flüchtlinge in Ungarn aus und kam über das sogenannte Selbsteintrittsrecht selbst für die Flüchtlinge auf. In dieser Woche teilte das Bundesinnenministerium mit, dass die Regel bereits seit drei Wochen wieder gelte.
Abschiebungen erscheinen aufgrund der Überlastung der Staaten an der Balkanroute derzeit als unwahrscheinlich. Eine Status-Herabstufung, wie Roßocha sie befürchtet, hätte aber dennoch Konsequenzen für die syrischen Flüchtlinge. Die Koalition hatte sich in der kommenden Woche darauf geeinigt, das Recht auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre auszusetzen. Bislang fallen Syrer nicht darunter, weil sie in der Regel nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden. Der Schutzstatus hat neben dem Familiennachzug auch Auswirkungen auf die Aufenthaltsdauer.
Roßocha kritisierte die Wiedereinsetzung von Dublin auch wegen der Dauer von Asylverfahren. »Es wird dazu führen, dass die Versuche, die Verfahren kürzer zu gestalten damit scheitern«, sagte er: »Die dann wieder nötige individuelle Anhörung wird dafür sorgen, dass die Bearbeitungsdauer stattdessen wieder verlängert wird.«
Rotes Kreuz: Flüchtlingshelfer mit Feuerwehrleuten gleichstellen
Für ehrenamtliche Flüchtlingshelfer sollten nach Ansicht des Deutsche Roten Kreuzes (DRK) Freistellungs- und Entschädigungsregelungen wie im Katastrophenschutz gelten. »Bei solchen nationalen Großeinsätzen halten wir die Gleichstellung der ehrenamtlichen Helfer mit der Freiwilligen Feuerwehr oder dem Technischen Hilfswerk für unumgänglich«, sagte DRK-Präsident Rudolf Seiters der in Düsseldorf erscheinenden »Rheinischen Post« (Freitagsausgabe). Die aktuelle Flüchtlingskrise sei mit kurzen Einsätzen wie bei einer Flut nicht zu vergleichen, sagte Seiters. Deshalb müsse es eine neue Regelung für derartige nationale Großeinsätze geben, die sich über Monate hinziehen. Außerdem müsse die Flüchtlingsarbeit mehr und mehr in die Hände professioneller Helfer übergehen. Das DRK betreibt bundesweit mehr als 440 Notunterkünfte mit über 120.000 Flüchtlingen. Rund 15.000 ehrenamtliche und hauptamtliche Helfer seien rund um die Uhr im Einsatz.
Allein im diakonischen Bereich der evangelischen Kirche engagieren sich nach den Worten von Diakonie-Sprecherin Ute Burbach-Tasso derzeit 100.000 Menschen für Flüchtlinge.
Viele Willkommensgruppen würden von Migrationsfachstellen koordiniert und seien in Kirchengemeinden angesiedelt, sagte sie der Zeitung. Im Bereich der Caritas sind nach Angaben einer Sprecherin ebenfalls rund 100.000 Frauen und Männer ehrenamtlich für Flüchtlinge tätig.
Bundeshaushalt auch 2016 ohne Neuverschuldung
Die »Schwarze Null« für 2016 ist beschlossene Sache. Der Haushaltsausschuss des Bundestages verabschiedete am frühen Freitagmorgen den Etat der Koalition für das nächste Jahr. Er sieht trotz der Milliarden-Mehrausgaben zur Bewältigung der Flüchtlingskrise weiter keine neuen Schulden vor.
Damit kann Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) das dritte Jahr in Folge die »Schwarze Null« in seinem Etat anpeilen. Ob dies gelingt, hängt auch von der weiteren Entwicklung der Flüchtlingszahlen und den Kosten für die Integration ab. Dank höherer Haushaltsüberschüsse in diesem Jahr kann sich Schäuble aber auf ein größeres Finanzpolster stützen als bisher gedacht.
In der entscheidenden »Bereinigungssitzung« stockte der Haushaltsausschuss nach 16-stündigen Verhandlungen die schon bestehende Rücklage zur Finanzierung der Flüchtlingskosten auf 6,1 Milliarden Euro auf. Aus den Etat-Überschüssen dieses Jahres war zunächst eine Rücklage von fünf Milliarden Euro gebildet worden. Endgültig verabschiedet wird der Haushalt Ende November.
Gegenüber dem Regierungsentwurf Schäubles vom Sommer wurden die Mittel für das Bundesinnenministerium nochmals um rund eine Milliarde Euro erhöht. Mehr Geld und zusätzliche Stellen gibt es für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Sicherheitsbehörden und das Technische Hilfswerk.
Die Mittel für Integrationsmaßnahmen werden um 293 Millionen Euro aufgestockt. Bis 2018 sind zudem insgesamt 165 Millionen Euro für die Ersatzbeschaffung von drei Einsatzschiffen der Bundespolizei eingeplant. Das Auswärtige Amt erhält rund 450 Millionen Euro zusätzlich für humanitäre Hilfe und Krisenprävention. Neben dem Flüchtlingsthema beschließt die Koalition auch für andere Bereiche zusätzliche Ausgaben.
LINKEN-Chef Bernd Riexinger erklärte, Willkommenkultur und sozialer Zusammenhalt müssten Vorrang vor dem Ziel einer »Schwarzen Null« haben. »Die Bundesregierung muss Wort halten und zugleich ein klares Bekenntnis ablegen, dass Flüchtende nicht gegen die Bevölkerung ausgespielt werden: Kürzungen bei Renten und Sozialausgaben darf es nicht geben«, forderte Riexinger. Die nach seinen Angaben vom Haushaltsauschuss veranschlagten 6,1 Milliarden Euro für die Aufnahme und Versorgung Geflüchteter deckten nach Ansicht des LINKEN-Politikers nicht einmal einen Bruchteil der Kosten ab. »Die jahrelange Sparpolitik der öffentlichen Hand hat in vielen Bereichen zu einer strukturellen Unterversorgung geführt«, so Riexinger.
Tobias Lindner von den Grünen kritisierte, der Haushalt der Koalition gebe auf die drängendsten Herausforderungen keine ausreichenden Antworten: »Statt mit Mut und Tatkraft die Herausforderungen durch die Flucht und Migrationsbewegungen, die Klimakrise und des Investitionsstaus anzugehen, produziert sie Chaos und verfällt in zentralen Bereichen in Schockstarre.«
Von der Leyen sieht kein Hindernis für Abschiebung von Flüchtlingen nach Afhanistan
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sieht in der Sicherheitslage in Afghanistan kein Hindernis für eine Abschiebung von Flüchtlingen. Es gebe dort etliche große Städte, wo sich trotz unbestreitbarer Risiken ein »weitgehend normales« Leben abspiele, sagte von der Leyen der »Bild«-Zeitung vom Freitag. Daher solle es über eine Abschiebung von Asylbewerbern aus dem asiatischen Land Einzelfallentscheidungen geben.
Zuvor hatte sich bereits Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) dafür ausgesprochen, Afghanistan-Flüchtlinge verstärkt in ihre Heimat zurückzuschicken. Auch von der Leyen räumte allerdings in der »Bild« ein, die Sicherheitslage in Afghanistan sei nicht annähernd mit der in Europa vergleichbar.
Das Auswärtige Amt schätzt einem »Spiegel«-Bericht zufolge die Lage in Afghanistan sogar ausgesprochen pessimistisch ein. Die Gefahr für Leib und Leben sei in jedem zweiten afghanischen Distrikt »hoch« oder »extrem«, heißt es dem Magazin zufolge in einer internen Lageeinschätzung der deutschen Botschaft in Kabul. Selbst in Landesteilen, die bisher als relativ sicher galten, wachse die Bedrohung »rasant«.
Es sei in naher Zukunft mit massiven Angriffen der radikalislamischen Taliban zu rechnen, befürchten die deutschen Diplomaten demnach weiter. Diese hatten Ende September vorübergehend die nordafghanische Großstadt Kundus besetzt. Die »Ausdehnung der Taliban« sei heute größer als zu Beginn des militärischen Eingreifens der Nato, zitierte der »Spiegel« aus dem Bericht weiter.
Auch Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion warnt, von der Leyen messe bei der Sicherheitslage am Hindukusch mit zweierlei Maß. »Um Abschiebungen nach Afghanistan zu rechtfertigen, biegt sich die Bundesregierung die Realität zurecht wie es ihr gerade passt.« Die Bagatellisierung des faktischen Kriegszustandes in Afghanistan stehe in krassem Widerspruch zu offiziellen Einschätzungen des Auswärtigen Amtes, erklärte Jelpke. Agenturen/nd
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