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Schöner als ein Roman
Sasha Abramsky geht durch »Das Haus der zwanzigtausend Bücher«
»Pessach hatte als eines der wichtigsten Rituale einen festen Platz im Kalender meiner Großeltern und ihrer Freunde - vergleichbar etwa mit dem Tag der Arbeit, an dem sie die gewerkschaftlich organisierten Kundgebungen der Arbeiter besuchten, oder mit dem 25. Oktober, an dem sie der Erstürmung des Winterpalais’ im Jahr 1917 gedachten.
Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher.
A. d. Engl. v. Bernd Rullkötter. Nachw. Philipp Blom. dtv. 382 S., geb., 22,90 €.
Sie alle waren Menschen, die die Last der Geschichte verspürten - die Pogrome, die ihre Eltern erlebt hatten, den Holocaust, dessen Zeugen sie in ihrer eigenen Jugend gewesen waren - und die nicht glaubten, dass sie die Möglichkeit hatten, ihre ureigene Identität selbst zu wählen. Sie waren jüdisch bis ins Mark: keine Revolutionäre, die zufällig Juden waren, sondern Juden, die sich entschieden hatten, Revolutionäre zu sein.«
Von diesen Großeltern Chimen und Miriam Abramsky und ihrer Doppelhaushälfte im Hillway 5 in Highgate im Norden von London handelt das von ihrem Enkel Sasha Abramsky liebevoll und fabelhaft geschriebene Buch »Das Haus der zwanzigtausend Bücher«. Es ist schöner als ein Roman, erhellender als ein Sachbuch, persönlicher als eine Biographie.
Der heute in Kalifornien lebende Autor war in jüngeren Jahren oft im Hause seiner Großeltern und erzählt aus eigenem Erleben, von dem, was er von seinen Eltern, anderen aus der Familie und vom riesigen Freundeskreis erfahren hat, der sich über die Jahrzehnte in durchaus wechselnder Zusammensetzung in diesem Haus eingefunden hatte, um mit Chimen zu diskutieren und von Miriam beköstigt zu werden. Beide waren Atheisten, achteten aber streng auf koscheres Essen. Sie stammten aus hochangesehenen Rabbinerfamilien und lernten sich als Mitglieder der Kommunistischen Partei Großbritanniens kennen.
Der Enkel schreibt seine Hommage an seine Großeltern wie eine Schlossführung: Er führt seine nie ermüdenden Leser durch die Räume des Hauses, fängt in dem Schlafzimmer an, der »Zitadelle« mit einer überwältigenden Auswahl von Büchern und Sammlerstücken über die Ereignisse von 1848 (Kommunistisches Manifest), 1871 (Pariser Kommune) 1917 (Oktoberrevolution in Russland) und geht über Diele, Küche und Wohnzimmer bis ins Esszimmer, wechselt dann ins obere Wohnzimmer und kehrt noch ein paar Mal wieder nach unten zurück. Überall waren Wände, Fußböden und - bis auf den Esstisch - auch die Tische mit Büchern belegt. Chimen hatte in einem Antiquariat angefangen, handelte und sammelte dann selbst zunächst vor allem mit Sozialistica, besaß den sagenhaften Mitgliedsausweis von Karl Marx in der 1. Internationale. Er war ein gesuchter und aus aller Welt besuchter Experte auf dem Gebiet der im frühen Sozialismus und Kommunismus erschienenen Schriften. Sein einziges vollendetes Buch über Karl Marx in der 1. Internationale fand international Anerkennung von der New York Times bis nach Moskau, wo es noch erscheinen konnte, als seine Begeisterung für Stalin und die sowjetische Variante eines ihm zu wenig freiheitlichen Sozialismus nachgelassen hatte.
Da hatte er - immerhin erst zwei Jahre nach seiner Frau - die Partei bereits verlassen und verlegte seine Sammelleidenschaft auf Judaica. Hier wurde er zu einem in aller Welt gefragten Fachmann, der im mittleren Lebensalter sogar ohne höheren Schul- oder gar Hochschulabschluss zum Professor für jüdische Geschichte in London berufen wurde. Er wusste auf seinen Spezialgebieten einfach alles und hatte vieles in seiner einzigartigen, nicht etwa durch eine nachvollziehbare Struktur zu erschließenden Bibliothek.
Von seinen Gästen zu erzählen, artet leicht in ein Namedropping aus, deshalb seien hier nur drei Namen erwähnt, die auch hierzulande einen guten Klang haben: der marxistische Historiker Eric Hobsbawm (»Das Zeitalter der Extreme«), der russische-britische liberale Philosoph Isaiah Berlin (»Das krumme Holz der Humanität«) und der englische Historiker Mark Mazover (»Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus«). Zu allen Besuchern entwickelt der Enkel kleine biographische Skizzen, so dass der Leser nicht nur die Bücherzimmer des Hauses kennenlernt - das waren praktisch alle Räume - sondern auch die geistige Welt der Epoche des Chimen Abramsky miterlebt. Der starb 13 Jahre nach seiner tapferen und gastfreundlichen Frau im Jahre 2010.
Sein Enkel hat aus dem Leben seiner Großeltern, aus Chimens Obsessionen, seinen Fehlern und seinem enzyklopädischen Wissen ein literarisch anspruchsvolles Dokument der liebvollen Verehrung gemacht und seinem schönen Text ein paar Fotos aus dem Familienbesitz beigegeben - großartig!
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