- Kultur
- Bücher zum Verschenken
»Du wirst verführen - und somit retten«
Anna Radlowa: Eine Novelle der russischen Moderne, von der bislang kaum jemand wusste
Unglaublich, von heute aus gesehen: dass kluge Köpfe in Russland die Oktoberrevolution, den Bürgerkrieg und die folgende bolschewistische Herrschaft, »deren Anhänger sie waren, als eine Revanche der Skopzen verstanden, als einen Aufstand der gesammelten Volkssekten unter Führung der geheimsten und unheimlichsten«.
Anna Radlowa: Tatarinowa. Die Prophetin von St. Petersburg.
Hg. v. Olga Martynowa u. Oleg Jurjew. A. d. Russ. v. Daniel Jurjew. Weidle Verlag. 111 S., br., 17,90 €.
Aber »dieses Verständnis der Revolution, positiv oder negativ, teilten die meisten Menschen der russischen Moderne«, schreibt Oleg Jurjew, der zusammen mit seiner Frau Olga Martynowa diese Novelle herausgab, die viele Jahrzehnte in der Russischen Nationalbibliothek schlummerte. »Die neuen Skopzen, die Bolschewisten, führten die gesammelten Sekten, d.h. das russische Volk, zur Verwirklichung der Utopie von einem Gottesparadies auf Erden.« Der Geheimbund der Skopzen, der sich um 1757 bildete, soll Anfang des 20. Jahrhunderts, zumindest in den Köpfen von Anna Radlowa und anderen Schriftstellern, dermaßen lebendig gewesen sein, dass ihnen die wirklichen, die sozialökonomischen Wurzeln des revolutionären Umsturzes gar nicht bewusst wurden?
Man erfährt viel Erstaunliches aus dieser Novelle über Umtriebe in St. Petersburg zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Jekaterina Tatarinowa (1783-1856), geborene Freifrau von Buxhoeveden, wird von einem »gelblichen alten Jüngling« empfangen - Alexej Jelenskij, einem polnischen Adligen, der dem Skopzenanführer Kondratij Seliwanow nahestand. »Deine Schönheit ist Sünde, dein Liebreiz - Verdammnis. Nimm den Glauben an, und du wirst deine Schönheit zum Werkzeuge der Erlösung machen. Große Männer, Generäle, Geheimräte werden herbeiströmen und sich vor dir verneigen. Meinen Enkel im Fleische, die Kaiserliche Majestät, vergißt du nicht … Du wirst verführen - und somit abweisen, verführen - und somit retten, zu neuer Beweißung bringen unser Land.«
»Beweißung«, das heißt Kastration. Die Skopzen trieben die sexuelle Askese so weit, dass sie sich nur durch Verstümmelung als »Weiße Tauben« oder »Weiße Lämmer« fühlten und andere Menschen »Esel« und »Ziegen« nannten. Die Herrschaft dieser Auserwählten, so Jelenskij, der selbst das »Gottessiegel« trug, würde das »russische Reich vor der Verderbnis retten, alle beweißen, alle, alle …« Wäre das nicht letzten Endes die Selbstauslöschung der Nation, der Menschheit? Ein verwirrter Geist - und so viele Anhänger!
Jelenskij wurde unter Zar Nikolaus I. für psychisch krank erklärt und in ein fernes Kloster geschickt. Aber Alexander I., sein Vorgänger auf dem Thron, hatte für diese Sekte Sympathie empfunden, was wohl vor allem auch dem Zauber jener Jekaterina Tatarinowa zuzuschreiben war.
Keine Angst, wir erleben nicht, wie Männer zu Eunuchen gemacht werden, denn in den feinen Kreisen der Tatarinowa, die sich im Petersburger Michaelsschloss versammeln, wird die Kastration eher geistig betrieben. Die adligen Herren tanzen nur, sie flüstern und schütten ihrer Göttin das Herz aus. »Katerina Philippowna hörte sie aufmerksam an, den Kopf geneigt wie ein Vogel und hielt in der heißen Hand die erkalteten, zitternden Finger.« Die Besucher gehen von ihr, »als kämen sie gewaschen aus dem Dampfbade«, sie aber bleibt allein zurück, ausgelaugt, »mit der ganzen Last all der Hirngespinste«. - Mit viel Sympathie betrachtet Anna Radlowa die Tatarinowa, als ob es auch ihr gefallen würde, andere so in ihren Bann zu ziehen.
Die Novelle wurde 1931 geschrieben, tatsächlich soll es »geistliche Skopzen«, Prediger der Enthaltsamkeit, bis heute geben. Radlowa, berühmt auch als Shakespeare-Übersetzerin, schrieb keinen historischen Roman, sondern ein poetisches Werk der Moderne - eine Collage von Zitaten aus Dokumenten und Briefen, in die erzählerische Passagen eingeflochten sind. Was ihr und ihren Lesern selbstverständlich war, versetzt uns heute in Erstaunen, sodass allein schon der Kommentar und das Nachwort von Oleg Jurjew interessanter Lesestoff sind.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.