Strommasten knickten wie Halme

Vor zehn Jahren galt in Westfalen Katastropenalarm - das Schneechaos ist unvergessen

  • Anna Spliethoff
und Carsten Linnhoff, Münster
  • Lesedauer: 3 Min.
Zerstörte Hochspannungsmasten, Verwehungen, Verkehrsunfälle: Bis zu zwei Wochen waren die Einwohner ohne Strom, als vor zehn Jahren das Münsterland im Schnee versank. Noch heute wirkt das nach.

Jedes Jahr im November schmeißt Thomas Ostendorf sein Notstromaggregat an. Der Landwirt koppelt das Gerät an seinen Trecker und startet den Motor der kräftigen Zugmaschine. Aus Diesel wird dann Strom. In diesem Jahr testet der Schweinezüchter die Technik am 25. November zum zehnten Mal. Zu deutlich hat er noch die Bilder aus dem Jahr 2005 im Kopf.

Damals brach am ersten Adventswochenende ein denkwürdige Chaos in Westfalen ein. Es schneite ungewöhnlich viel in der flachen Region. Hinzu kamen Sturmböen. Doch damit nicht genug: Der Schnee war so nass und schwer, dass Strommasten unter ihm einknickten wie Halme.

»Die Tage haben einfach gezeigt, dass die Menschen sich gegenseitig helfen können. Wir haben damals alle viel improvisiert, einige haben 48 Stunden am Stück durchgearbeitet und hatten so viel Adrenalin im Blut, dass sie nicht wieder runterkamen«, erzählt der heute 39-jährige Ostendorf, der einen Hof in Ochtrup betreibt.

Im Münsterland gingen die Lichter und - was noch schlimmer war - die Heizungen aus. In Tausenden Eigenheimen blieb es tagelang dunkel und kalt. Das westliche Münsterland und der Raum Osnabrück ächzten am meisten unter der Schneelast. 250 000 Menschen waren zwischenzeitlich ohne Strom. In den Kreisen Borken und Steinfurt wurde Katastrophenalarm ausgerufen, Turnhallen und Gemeindezentren wurden zu Notunterkünften.

»Das war eine der prägendsten Situationen in meinem Berufsleben«, sagt Stefan Bergmann zehn Jahre später. Er war 2005 Sprecher des Krisenstabs der Bezirksregierung Münster, der erst wenige Wochen zuvor überhaupt gegründet worden war. Die erste Nacht habe der Stab durchgearbeitet. »Als es dann hell wurde, hat man das ganze Elend gesehen«, erzählt Bergmann. Viele Tiere seien verendet, Strommasten umgeknickt. Von der Dramatik her sei der Samstag der schlimmste Tag gewesen. Allen sei bewusst geworden, wie sehr alles am Strom hänge.

Die zahlreichen Bauern in der Region hatten ebenfalls schwer zu kämpfen. Prall gefüllte Euter bereiteten den Kühen Schmerzen und ohne Wärmelampen waren viele Ferkel in Gefahr.

Auch Bergmann hat die Probleme von damals noch gut vor Augen. Zwischenzeitlich habe es so ausgesehen, als würden mindestens 600 Landwirte ihre gesamte Existenzgrundlage verlieren, sagt er.

Am 25. November 2005 brach also nicht nur ein Schneetreiben, sondern auch eine schwere Zeit über das Münsterland herein. Aber mehr als 4000 Freiwillige von Feuerwehren und Hilfsorganisationen aus ganz NRW kamen den Westfalen zur Hilfe. Bergmann bewundert noch heute die Solidarität. Die Hilfe von außen sei sehr groß gewesen.

Besonders schlimm war die Kleinstadt Ochtrup betroffen. Die einzige Stromleitung war auf drei Kilometern Länge zerstört worden. »In Ochtrup waren Gebiete teilweise zwei Wochen ohne Strom«, erinnert sich Bergmann, der heute Chefredakteur der Emder Zeitung in Niedersachsen ist.

Auch im Zugverkehr und auf den Straßen hielt das Chaos Einzug. Verspätungen von über 7000 Minuten und rund 2000 Unfälle waren die Folge. Landwirt Ostendorf zeigt sich noch immer erstaunt darüber, dass nicht mehr passiert ist. Dank seines Notstromaggregats war seine Schweinezucht nicht in Gefahr. »Jeder stand für den anderen ein. Angst hatte ich damals nicht. Wir haben uns nur über die leichtsinnigen Autofahrer gewundert, die meinten, sie könnten bei dem Schnee übers Land fahren. Viele von denen mussten wir mit den Treckern zurück auf die Straßen ziehen.« dpa/nd

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