Im Traum ein Superheld

Der Aktionskünstler Philipp Ruch hat ein exzentrisches Manifest gegen die Gleichgültigkeit geschrieben. Ein Porträt

Philipp Ruch ist ein ambivalenter Typ, keinesfalls auf ein Wort zu bringen. Er setzt sich für mehr Mitmenschlichkeit ein, sehnt sich nach Größe und Heldentum. Und er kann mitreißen.

Zwei große Protestaktionen zum selben Thema. Doch nur eine wird in Erinnerung bleiben. Im Juni war es, da verwandelten mehrere Tausend Demonstranten die Wiese vor dem Bundestag in einen Friedhof für die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge. Die Gräber wurden zu stummen Anklagen einer Politik, die den Tod Tausender unschuldiger Menschen mit verursacht. Das politische und mediale Echo war immens. Auf Twitter war der Hashtag der Aktion #dietotenkommen mehrere Stunden der populärste in Deutschland. Auch einen Tag zuvor wurde in Berlin mehr Solidarität mit Flüchtlingen eingefordert. Auch dieser Protest führte ins Regierungsviertel. Doch er schaffte es nicht einmal zum Stadtgespräch. Dabei stand hinter der Demonstration ein ganzes Bündnis von Gruppen. Sie alle zusammen brachten jedoch nur etwa genauso viele Leute auf die Straße wie eine kleine Gruppe Aktionskünstler, die sich die provokante Aktion am Reichstag ausgedacht hatte und eingeladen hatte mitzumachen. Viele Menschen sind Fans des von Philipp Ruch gegründeten »Zentrums für Politische Schönheit«. Vor den »Toten«, die in Berlin beerdigt wurden, hat das Zentrum Kopfgeld auf die Eigentümer der Waffenschmiede Krauss Maffei ausgesetzt, im Namen von Familienministerin Schwesig eine »Kindertransporthilfe« für Syrienflüchtlinge gestartet und die Mauerkreuze am helllichten Tag abgeschraubt, um sie parallel zu den Wendefeierlichkeiten an die neuen Mauern an den EU-Außengrenzen zu bringen. Offenkundig gelingt diesem Kreis von im Kern nicht mehr als 30 Leuten mit merkwürdigen Titeln wie Chefunterhändler, Eskalationsbeauftragter oder Geheimer Rat etwas, das anderen politischen Organisationen, ob groß oder klein, oft schwer fällt: mitzureißen.

Zugleich können selbst Sympathisanten ein leichtes Unbehagen nicht unterdrücken, denn bei all dem steht der 34-jährige »Chefunterhändler« Philipp Ruch doch ziemlich im Vordergrund und irritiert mit allzu selbstbewussten Aussagen. Auch sein erstes Buch »Wenn nicht wir, wer dann?«, das diese Woche erschienen ist, ist voller Superlative. Aus ihm spricht eine Sehnsucht nach charismatischen Führern, Menschheitserrettern und Heldentaten, die in die Geschichte eingehen. Dass so ein Mensch nicht Angst macht, sondern äußerst populär ist, dürfte an einer weiteren Eigenschaft liegen: Wer Ruch jemals persönlich getroffen hat, weiß: Er ist ein ganz und gar einnehmender Mensch. Offen, herzlich, locker, gesprächig. Die Haare über der Stirn schon etwas licht, blaugrauer Strickpullover, der seine hoch aufgeschossene schmale Statur noch immer nicht rund machen kann, brauner 10-Tage-Bart, kleine runde, hellblaue Augen. Er ist ein aufmerksamer Gesprächspartner, kommt von sich aus auf Fragen zurück, fragt selbst interessiert nach, setzt bescheiden nicht voraus, dass das Gegenüber seine Aktionen »politischer Schönheit« verfolgt hat. Er kommt an diesem Tag gerade vom Maxim Gorki Theater, wo er an einem künstlerischen Flüchtlingsprojekt beteiligt ist. Mit der Intendantin Shermin Langhoff arbeitet das »Zentrum« kontinuierlich zusammen. Im »Gorki« wird auch sein Buch am 1. Dezember Premiere haben. Es ist eine Art Grundlegung seines Engagements.

Ruch kann und will nicht verstehen, wie man den kenternden Booten auf dem Mittelmeer seelenruhig zuschauen kann. Den Verbrechen in Syrien. Vergewaltigungen im Kongo. Er leidet daran. »Wir könnten das alles wissen, es passiert unter unser aller Augen«, sagt er. Jede Woche sieht er sich Videos aus dem umkämpften Aleppo an. »Das brennt sich ein, das lässt dich nicht mehr los.« Er ist einer, der die Ideale der bürgerlichen Demokratie ernst nimmt und deren fehlende Verwirklichung einklagt. Was er sieht ist Gleichgültigkeit, Selbstbezogenheit und Zynismus. »Wäre der Westen ein Mensch, säße er wegen unterlassener Hilfeleistung in Haft.«

Kriege und Krisen in der Welt sind für ihn im Wesentlichen auf Ignoranz zurückzuführen. Er klagt über eine Regierung ohne Visionen, die nur verwaltet, statt die Welt besser zu machen, und man gewinnt den Eindruck, dass er das nicht nur aus taktischen Gründen sagt, sondern dass er tatsächlich nicht sieht, dass eine Politik, die die Machtverhältnisse nicht verändern will, auch nicht einfach mitmenschlicher sein kann. Das Wort Kapitalismus kommt in seinem Buch ungefähr zwei Mal vor, verknüpft mit einer Watsche für die Antikapitalisten.

Vor allem versucht Ruch, die Ursachen für Ohnmacht und Gleichgültigkeit zu ergründen. »Ich hatte das Bedürfnis, eine Art Prüfstand zu schreiben, den man gedanklich durchlaufen kann, um einige Dinge klar zu kriegen. Vor allem die Frage: Wie sehe ich mich und will ich mich wirklich so sehen?«, erklärt der Berliner, der 1981 in Dresden geboren wurde, und dessen Eltern kurz vor dem Mauerfall in die Schweiz ausreisten. Den Nährboden entdeckt er in »toxischen Ideen« - vergifteten Vorstellungen, die von einer falschen Dominanz der Naturwissenschaften und einem von Hobbes geprägten Bild vom Menschen als egoistischem Einzelkämpfer herrühren. Die 200 Seiten sind nicht mal eben »konsumierbar«. Sie erfordern einige Gedankenarbeit, aber selbst wenn man seinen Überlegungen zum geistigen Nihilismus, dem Arkanum der Psychologie und dem Erdbeben der Schönheit nicht im Detail folgen will, eines kann nicht missverstanden werden: sein eindringlicher Appell zu handeln.

Er hatte dabei die »etablierten Landlustleser«, vor allem aber junge Leute im Blick, sagt er. Vieles was er in der heutigen Zeit diagnostiziert, speist sich aus eigenen eskapistischen Erfahrungen und aus Reaktionen seines Umfelds. Als er mit Anfang 20 nach Deutschland zurückkehrte, zog er als erstes aufs Land, um dort - ganz romantisch - zu schreiben. Gerade zwei Monate hielt er es in der brandenburgischen Abgeschiedenheit aus, dann sei er vor den Fröschen weggerannt. »Weißt du, wie laut die sein können?« - das Du hatte er noch vor dem Platznehmen angeboten. In Berlin schrieb er sich daraufhin an der Humboldt Universität für politische Philosophie ein, promoviert bei Herfried Münkler über »Ehre und Recht«.

So dezent sein persönliches Auftreten, so sehr erinnert Ruch an einen kleinen Jungen, der davon träumt, ein Superheld zu sein. Wenn er etwa im Gespräch über die Terroranschläge in Paris leichthin erklärt, käme jetzt jemand mit einer Kalaschnikow herein, wäre es das Schlechteste, sich auf den Boden zu legen und erschießen zu lassen, um dann ohne Zögern zu behaupten: »Ich würde mich opfern.« Er lässt darauf ein kleines Lachen folgen, so dass man nicht weiß, ob er das wirklich ernst meint, ob er wirklich sicher ist, dass er nicht wie normale Menschen gelähmt wäre vor Todesangst. Exzentrisch ist es allemal, genauso wie sein Bedauern darüber, dass »in Demokratien Macht und Herrschaft dämonisiert« werden. Für Ruch sind Menschen, die hoch hinaus wollen, nicht in erster Linie Gefahr, sondern Hoffnungsträger, die für die Kraft stehen, die Probleme der Menschheit zu lösen.

Philipp Ruch meint es ernst. Er hat ein Anliegen. Darum lässt er den Vorwurf mancher Kritiker, es würde ihm nur um öffentliche Aufmerksamkeit, nicht um Inhalte gehen, an sich abprallen. Das Zentrum hat mit Srebrenica angefangen. »Damit ist kein Blumentopf zu gewinnen.« Zu TTIP oder Stuttgart 21 hätten sie nie etwas gemacht, beides offenbar Inbegriffe von Themen, denen Aufmerksamkeit sicher ist. Ein wenig reicht er den Vorwurf sogar weiter, an etablierte Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und Amnesty International. Die findet er »lau«. Ihnen fehle eine charismatische Stimme wie Rupert Neudeck, »der letzte große Menschenrechtler der Bundesrepublik« und neben dem Holocaustüberlebenden Eli Wiesel und dem Lebensretter Varian Fry eines seiner Vorbilder. Mit »lau« meint der Aktionskünstler Ruch nicht einen Mangel an Rhetorik, seine Kritik geht tiefer: Er glaubt, dass ihnen Leidenschaft und Empörung über die menschenrechtswidrigen Zustände in der Welt fehlen.

Warum sucht sich einer, der große politische Veränderungen einfordert, nicht eine bestehende politische Gruppe, um sie durchzusetzen? Oder tut sich zusammen mit dem Bündnis, das an jenem Wochenende im Juni ebenfalls eine Demonstration organisiert hat? Viel fällt ihm zu dieser Frage nicht ein. Politischer Aktivismus jenseits des Zentrums ist für ihn gleichbedeutend mit Onlinepetitionen und Menschenketten. »Feel-good-Protest - da renn ich weg.« Er sei bei Aktionen gegen den Abschiebeknast in Grünau dabei gewesen, er kennt den Schlachtruf der linksradikalen Szene »Köpi bleibt«, auch bei der SPD hat er reingeschaut. Es blieb bei Gastauftritten. »Für den Zweiklang politische Schönheit fand ich da nichts.« Sein Aha-Erlebnis sei im Jahr 2010 eine Demo gegen Vergewaltigungen im Kongo gewesen. 30 Leute, er der einzige Weiße. »Zum gleichen Zeitpunkt fand in Stuttgart die größte Massendemo aller Zeiten statt. Gegen einen Tiefbahnhof!«

Ruch ist recht ungnädig, wenn er das Engagement von anderen beurteilt. Dass sich inzwischen in Deutschland viele Menschen für Flüchtlinge engagieren, findet er gut, mag es aber nicht zu hoch bewerten. »Eine Minderheit« und überhaupt »das Mindeste«. »Ich fordere viel mehr. Wir dürfen auch die Menschen in Syrien nicht allein lassen.« Was er sich genau vorstellt, ist letztlich nicht herauszufinden. Wahrscheinlich wünscht er sich für Präsident Assad ein ähnliches Schicksal wie für den libyschen Diktator Gaddafi, über dessen Tötung er »einigermaßen froh« ist, sonst wäre Libyen ein zweites Syrien geworden. Dass dort ebenso wie in Afghanistan oder Irak bis heute nichts gut ist, ist für ihn eine Folge von zu wenig Engagement. Die Länder seien im Stich gelassen worden: »Wo war Entwicklungshilfe, wo der Aufbau?«

In der Tat: Inhalte fehlen nicht, schwierig ist eher, welche es sind. Ruchs Lösungsansätze klingen nach »Menschenrechtsinterventionismus«, was er allerdings erstaunt zurückweist. So will er nicht verstanden werden. Und kommt nach einigen Windungen doch wieder an den Punkt, dass, »wenn alles nicht geholfen hat«, man Völkermörder eben nicht durch Verhandlungen stoppt. »Mich treibt der Sinn für Gerechtigkeit, dem steht der Sinn für Frieden zum Teil entgegen.« Auschwitz sei auch nicht von NGOs, sondern von Soldaten befreit worden. Und doch wurmt ihn der Vorwurf anscheinend, wenn er später darauf zurückkommt, dass sein Buch als Aufruf gelesen werden könnte, Bomben und Panzer gegen die Assads dieser Welt zu entsenden. Jeder Einzelne, sagt er nun, solle Diktatoren mit den Mitteln »den Krieg erklären«, die er hat, »ob Bauingenieur, Künstler, Hacker oder Journalist«.

Es wäre wohl wirklich falsch, in Ruchs Engagement vor allem Agitprop für humanitäre Interventionen zu sehen. Zu allererst geht es ihm um etwas ganz und gar Idealistisches: Mitmenschlichkeit. Und hier weiß er besser als so mancher Vollblutaktivist, was der Schlüssel ist, um das Gefühl von Ohnmacht hinter sich zu lassen. Ruch beschreibt das in einem schönen Bild. So würden wir es nicht ertragen, müssten wir die stacheldrahtgesicherten Grenzen abschreiten. »Aber gib den Leuten einen Bolzenschneider in die Hand, das verändert alles.«

Die nächste große »Handlung« soll 2016 kommen. Jetzt lassen sie erstmal das Jahr ausklingen. Ruch wird sein Buch vorstellen. Im Dezember erwartet er sein zweites Kind. Sicher ist, dass sie die nächste Aktion längst vorbereiten, jede hat mehrere Monate Vorlauf bis alles recherchiert, beantragt, finanziert ist. Was es sein wird, werden sie aber wie üblich erst kurz vorher sagen. Es hat etwas mit Massensterben zu tun.

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